Im Kino: "Der Vorleser":Bedeutsame Berührungen

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Eigentlich geht es in "Der Vorleser" um Sex mit einer KZ-Wärterin. Oscar-Gewinnerin Kate Winslet allerdings ist bemerkenswert uneitel - und darin besser als Nicole Kidman je hätte sein können.

Tobias Kniebe

Zu der erstaunlichen Transformation, mit der Kate Winslet in diesem Film ihren Oscar erkämpft hat, gehört ihr Gang. Wie sie so im grauen Wintermantel durch die Straßen stapft, wirkt ihre ganze Erscheinung schwergängig, tiefergelegt, geländetauglich. Die Hüften scheinen mit jedem Schritt breiter zu werden. So laufen sonst nur Bäuerinnen im frühen sowjetischen Dokumentarfilm.

Michael (David Kross) muss Hanna (Kate Winslet) nach dem Sex vorlesen. (Foto: Foto: Filmverleih)

Und wenn man sieht, wie energisch diese Frau ihre wuchtigen Halbschuhe an der Fußmatte wetzt, Ordnung muss sein, hört man fast schon die Hacken knallen. Dazu ihre durchweg unrunden Bewegungen, ihr kantiges, nicht kosmetisch geglättetes Gesicht, dessen Haarflaum im Gegenlicht leuchten darf, die oft dräuend gesenkten Augenbrauen - das alles ist eine bemerkenswerte, auch bemerkenswert uneitle physische Leistung. Kaum vorstellbar jedenfalls, dass etwa Nicole Kidman - die ursprünglich für die Rolle vorgesehen war - etwas annähernd Vergleichbares hinbekommen hätte.

Die Art, wie der englische Regisseur Stephen Daldry dieses wuchtige Frausein ausstellt, mitten in den fünfziger Jahren, wie er Strumpfbänder und vergilbte Büstenhalter ins Bild rückt, den Boiler gluckern und den Hausflur nach gefühlter Kohlsuppe riechen lässt, hat etwas Fetischistisches. Falls dies nicht seine eigenen Obsessionen sind, simuliert er jene des Autors Bernhard Schlink, der die Buchvorlage geschaffen hat, erstaunlich perfekt.

Verharmlosung des Holocaust?

Der junge David Kross, der nun stellvertretend immer wieder zum Sex in Winslets kleiner Dachwohnung antritt, wirkt dagegen etwas überfordert. Doch das muss wohl so sein. Er darf nicht wirklich wissen, wie ihm geschieht, oder welche frühen sexuellen Prägungen er hier abarbeiten hilft.

Das Verhältnis des Schülers Michael zu der zwanzig Jahre älteren Schaffnerin Hanna ist aber nicht nur ein körperliches - vor und nach der Liebe muss er ihr vorlesen, Weltliteratur. Als Hanna ohne Abschied verschwindet, leidet er sehr. Jahre später trifft er sie wieder, da entpuppt sie sich erstens als brutale KZ-Aufseherin und zweitens als Analphabetin - und wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Lebenslänglich hängt auch Michael mit drin - er kommt von ihren "Nazi Nippels", wie wütende angelsächsische Kritiker schrieben, die dem Film Verharmlosung des Holocaust vorwarfen, einfach nicht los.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, worin der Trick besteht.

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Es geht also um die Phantasie, mit einer KZ-Wärterin zu schlafen. Die ist allerdings auch dem britischen Mann nicht fremd - wie erst letztes Jahr das Beispiel des Formel-1-Funktionärs Max Mosley zeigte, dessen angebliche Nazi-Rollenspiele ungeplant zum Futter der Boulevardpresse wurden. Dass diese Phantasie auch nicht wirklich neu ist, davon erzählen Trashfilm-Klassiker wie "Ilsa, She Wolf of the SS" (1975).

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Der Trick des Bernhard Schlink besteht allerdings darin, den niederen Ursprung dieser fragwürdigen Obsession so geschickt in den hohen Ton der Erinnerungsliteratur zu verpacken, dass auch die nichtsahnende Buchclub-Leserin sich bedeutsam berührt fühlen durfte. Dieses Spiel haben Stephen Daldry und der englische Großdramatiker David Hare nun konsequent bis zu den Oscars weitergeführt, mit Kate Winslet als ruhelos perfektionistischer Komplizin - aber zwischendrin fragt man sich doch, wie alle drei in dieser Zeit wohl ihren doch zweifellos vorhandenen britischen Sarkasmus zum Schweigen gebracht haben.

Zäher Sieg

Aber halt - das ist natürlich schon die falsche Frage. Wer sich auf diesen Film einlassen will, muss ihn bitter ernst nehmen, darf sich nicht über die ewig magenkranke Leidensmiene eines Ralph Fiennes amüsieren, der den erwachsenen Michael spielt, oder fragen, welche Idee der Literatur hier eigentlich verhandelt wird.

Denn Hanna Schmitz hört nur die Worte der Allergrößten, folgt Homers Versen, Tschechows Erzählungen, Huckleberry Finns Abenteuern; manchmal weint sie am Ende, offensichtlich kann sie gar nicht genug kriegen, sogar im Konzentrationslager lässt sie sich, wie der Prozess enthüllt, von den Häftlingen vorlesen.

Und doch dauert es praktisch ihr ganzes Leben, bis all die Lektüre endlich Wirkung zeigt, bis die Möglichkeit einer persönlichen Schuld in ihren blonden Sturschädel eingesickert ist. Wenn man so will, ist das durchaus ein Sieg der Literatur - aber zäher wurde selten einer errungen.

THE READER, USA/D 2008 - Regie: Stephen Daldry. Buch: David Hare. Kamera: Roger Deakins, Chris Menges. Mit Kate Winslet, David Kross, Ralph Fiennes, Bruno Ganz. Senator Film, 124 Min.

© SZ vom 26.2.2009/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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