Im Kino: Carlos:Leidenschaftlicher Irrsinn

Vom Revolutionär zum Geschäftsmann: Der großartige Film "Carlos" mit Nora von Waldstätten als deutsche Frau des venezuelischen Terroristen Carlos zeigt einen Kämpfer, dem seine Geschichte gar nicht mehr gehört.

Willi Winkler

Einmal kommt der Film doch zur Ruhe, bleibt fast stehen zwischen dem Stakkato der Bombenanschläge und Maschinengewehrsalven, der hektischen Autofahrten und der frenetischen Bewegungen seines Hauptdarstellers. Dann steht Carlos vor dem Spiegel, um sich in ganzer nackter Schönheit zu bestaunen, diesen Körper, der so jung ist und so elastisch, apollinisch fast, aber nicht der Kunst geweiht, sondern ein Werkzeug der Revolution und deshalb eine erbarmungslose Waffe.

Themendienst Kino: Carlos - Der Schakal

Nora von Waldstätten als Magdalena Kopp und Edgar Ramirez als Ilich Ramirez Sanchez alias Carlos in dem Kinofilm "Carlos - Der Schakal" von Olivier Assayas.

(Foto: dapd)

Die Revolution kommt aus Südamerika, wo sie einmal gesiegt hat, 1959 in Kuba, um anschließend in Bolivien glanzvoll zu scheitern. Che Guevara ist längst verewigt, ein Heiliger, als der Venezolaner Ilich Ramírez Sánchez 1971 in London anlangt. Er gibt Unterricht in Spanisch, schläft ein bisschen herum unter den bewundernden Mädchen, achtet dabei aber darauf, abends immer pünktlich bei seiner Mutter und Schwester zu erscheinen.

Der geschiedene Vater hatte ihm einen der Namen Lenins gegeben und ihn zum Revolutionär bestimmt, hat ihn nach Moskau auf die Patrice-Lumumba-Universität geschickt, von wo er in den Libanon ging, um sich für den bewaffneten Kampf gegen Israel zu melden.

Wadi Haddad rekrutierte ihn, ein christlicher Kinderarzt, ebenfalls Revolutionär, aber maoistischer Observanz und mit dem unbedingten Willen, die Welt brutal auf das Schicksal der Palästinenser aufmerksam zu machen. Eine kleine, aber unerhört schlagkräftige Streitmacht bringt er zusammen, Idealisten und Verwirrte von der IRA bis zur Japanischen Roten Armee, Rechte wie Linke, die im Westen den Krieg führen, der im Nahen Osten nicht zu gewinnen ist. Der Rechtsanwaltssohn aus Venezuela, der den Kampfnamen "Carlos" erhält, wird sein Generalunternehmer.

Die Waffe versagt

Carlos ist ein Killer, kalt bis ans Herz hinan, das nur für die Revolution schlägt. Er wirft Bomben in Cafés, er überfällt Botschaften mit Dynamit, er beschießt Flugzeuge mit Raketen, er exekutiert seine Verfolger und bald auch Abweichler. Gleich zu Anfang dringt er in London in das Haus des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde ein und schießt ihn nieder; Edward Sieff überlebt nur, weil die Waffe dann versagt.

Carlos wechselt den Schauplatz, taucht in Paris auf, der bewaffnete Arm der palästinensischen Befreiungsbewegung, getarnt als lebenslustiger Ausländer. Dann schießt er inmitten hippielustiger, Gitarre spielender Sympathisantinnen in einer Minute drei Menschen tot und ist weitere zwei Minuten später spurlos verschwunden.

Im Stern rühmt sich Carlos, doch an die hundert Leute umgebracht zu haben ("Ich habe keine Unschuldigen getötet. Gut, vielleicht ein paar."), aber er sei kein Terrorist, sondern ein Kämpfer. In diesem Interview spricht allerdings ein lebendig Begrabener von seiner Jugend. Carlos ist wegen Mordes an zwei französischen Geheimpolizisten zu lebenslanger Haft verurteilt worden.

Er ist inzwischen sechzig Jahre alt und um sein Nachbild besorgt. In der Zelle hat er auf Canal plus in einer gewaltigen Rückblende sein Leben, jedenfalls in der Version von Olivier Assayas, gesehen und war selbstverständlich nicht mit dem Image einverstanden, das ihm der Film präsentierte.

"Carlos" ist zwar ursprünglich fürs Fernsehen gedreht worden, aber keine Doku-Fiction und hat auch das klassische Biopic weit hinter sich gelassen. Manchmal geht er gar zu frei mit den Fakten um: Die Behauptung, Saddam Hussein habe den Überfall auf die Ölminister in Wien in Auftrag gegeben, ist eine Geschichtsfälschung (es war der heute wieder einigermaßen gelittene Mummar el-Gaddafi), die Stasi und ihre Bürokratie ist zur Lächerlichkeit simplifiziert, der Aussteiger Hans Joachim Klein von den Frankfurter "Revolutionären Zellen" wird zum Helden stilisiert, was er ganz bestimmt nicht war.

Dieser Film erzählt ganz beiläufig davon, welcher Wahnsinn sich in den siebziger Jahren in die westliche Welt fraß, als im Namen der Revolution und angeblich im Auftrag entferntester Völkerschaften plötzlich jedes Mittel recht war und die Gewalt diese Befreiungsideologie beglaubigen musste.

Damals war es möglich, Waffen aus dem Ostblock nach Paris zu verschiffen, die dann gegen israelische Flugzeuge oder gegen Nato-Generäle eingesetzt wurden. Erst heute, in der Zeitreise, die Assayas bietet, wird der ganze so leidenschaftlich betriebene Irrsinn offenbar.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie plötzlich Gewalt in die westliche Konsumwelt einbricht.

Unbegreiflicher Elan

Es war die große weite Welt der Peter-Stuyvesant-Reklame, als PanAm den großen Flug machte: internationale Flughäfen, Hotelbars, Quartiere in den großen Hauptstädten und gutgelaunte Freunde überall. Es war die westliche Konsumwelt, mit goldgelbem Whiskey und schönen Frauen, in die plötzlich die Gewalt einbricht, ein Überfall von jungen Leuten, die mitten in dieser westlichen Gesellschaft leben und sie doch glauben bekriegen zu müssen.

Die Glaubenskrieger um Carlos üben in der schlimmsten arabischen Wüste, um den Krieg nach Paris und London und Wien zu tragen. Der Revolutionär solle sich im Volk tummeln wie der Fisch im Wasser, hatte Mao Zedong empfohlen. Die Klandestinität wird daher das größte Abenteuer für Carlos, die Großstadt ein Dschungel wie einst bei Chandler, nur dass der Revolutionär die feindliche Umwelt benutzt und bewusst im Herzen des Feindes operiert.

Diesen unbegreiflichen revolutionären Elan verkörpert mit maximalem Einsatz der Hauptdarsteller Édgar Ramírez. Er ist fast noch attraktiver als der sterbensschöne Che Guevara, findet allerdings vor den Augen Carlos' kein Gefallen, weil er dem Spiegel seinen Schwanz gezeigt hat. Aber Carlos will, wen wundert's, einfach nicht wahrhaben, dass ihm seine Geschichte gar nicht gehört.

Vom Revolutionär zum Geschäftsmann

Schon in den Siebzigern war er fremd, ein von fern hereinragendes Überbleibsel aus einer folkloristischen und zugleich intellektuellen Revolte, die in den westlichen Metropolen nichts mehr ausrichten kann. Er wurde zu einer mythischen Figur, die bald nichts mehr mit dem realen Terroristen zu tun hatte. In Wien präsentiert er sich mit den Worten: "Ich bin der berühmte Carlos."

Er muss den versammelten Ölministern aus den arabischen und mehreren südamerikanischen Staaten wie ein böser Geist erschienen sein, ein Rächer der Enterbten, der seinen Anteil an dem Ölreichtum für die Armen, für die von der Weltgeschichte vernachlässigten Palästinenser forderte. Das Gewissen schlug ihnen nicht, aber sie waren bereit, den Tribut dafür zu entrichten, dass die arabischen Brüder so viel ärmer dran waren als sie. Als er die Geiseln in Tripolis und Algier freilässt, beginnt Carlos, sich vom Revolutionär zum Geschäftsmann zu wandeln und wird damit, auch wenn er sich im Ostblock oder in Damaskus verkriecht, Teil der westlichen Welt.

Carlos kleidet sich wie der tote Che, und wäre er bei einem seiner Anschläge gestorben, er würde auf ähnlich vielen T-Shirts weiterleben wie sein Idol. Trotzdem wird er von Assayas nicht idealisiert. So viel revolutionäres Gestrampel, so viele Tote, nur damit dann die Stasi-Kamera einen besoffenen Lebemann festhält, vor dem sich die DDR womöglich noch mehr fürchtete als der Westen.

Die Revolution und der Film enden im Stillstand. Der schlanke Jüngling verdickt, der Körper, der ihm 1975 in Paris die Flucht ermöglicht hat, ist fett geworden, der Revolutionär viel zu träge für jede weitere Aktion. Der Körper, der einmal wie ein Projektil durch die westliche Gesellschaft fuhr, versteinert. Carlos ist Geschichte.

CARLOS, F/D 2010 - Regie: Olivier Assayas. Buch: Dan Franck, O. Assayas. Kamera: Yorick Le Saux, Denis Lenoir. Mit: Édgar Ramírez, Nora von Waldstätten, Alexander Scheer, Christoph Bach, Julia Hummer. NFP, 187 Min. (Kinofassung).

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