Süddeutsche Zeitung

Im Kino: "Antichrist":Auf eigene Gefahr

Der Zuschauer als Teil einer intimen Schicksalsgemeinschaft: Lars von Triers Film "Antichrist" ist eine Mischung aus Kalkül und Irrsinn, Handwerk und Halluzination.

Tobias Kniebe

Diesen Film ohne Vorwarnung auf die Welt loszulassen, wäre doch ein wenig gemein. Deshalb wird er mit einer Art Vorrede geliefert, einem "Geständnis des Regisseurs". Schon vor der ersten Vorführung in Cannes hat Lars von Trier dieses Geständnis verbreiten lassen. Auch jetzt wiederholt er es in jedem Interview. "Antichrist" ist demnach der Film eines kranken Mannes - geboren aus einer schweren Depression heraus.

Ein Teil des Drehbuchs entstand vor vier Jahren

Da musste einer, einst selbstgewiss bis zur Arroganz, jetzt arbeits- und beinah lebensuntüchtig, sich zum Filmemachen zurückkämpfen. All jene, die schon seit längerer Zeit behaupten, dass er krank im Kopf sei, bestätigt er. Zugleich übertrumpft und neutralisiert er sie. Ein Exorzismus also: Wer glaubt, sich das anschauen zu müssen, tut das auf eigene Gefahr.

Wobei dieses Geständnis, wie alle Selbstauskünfte von Triers, nur die halbe Wahrheit ist. Ein großer Teil des Drehbuchs zu "Antichrist" entstand schon vor vier Jahren, als von Depression noch keine Rede war. Als es losgehen sollte, verriet Peter Aalbæk Jensen, von Triers Produzent und langjähriger Weggefährte, der Presse aus Versehen das Ende - die Identität des Antichristen.

Von Trier tobte und drehte erst einmal zwei andere Filme. Dann kam die Depression. Da nahm er sich das Drehbuch erneut vor und fand für den alten Satan einen neuen, völlig anderen. Diese Mischung aus Kalkül und Irrsinn, aus kontrolliertem Handwerk und Halluzination prägt nun den Film. Er ist, anders als sein Schöpfer suggerieren will, keineswegs nur kompulsiv. Man sieht sogar die Bruchstellen. Das macht alles nur umso teuflischer.

Der negative Zeugungsakt

Ein Paar hat seinen Sohn verloren. Es verliert ihn im Prolog, während des Sexakts, zu ohrenbetäubenden Arienklängen von Händel. Statt egoistisch (und kurz sogar in Hardcore-Großaufnahme) dem Höhepunkt der eigenen Lust entgegenzustreben, hätten die beiden besser ein Auge auf den Nachwuchs geworfen. Der klettert nämlich, neugierig, unschuldig und ein wenig somnambul, aus dem Babystall zum offenen Fenster - um dann, in Zeitlupe samt Teddybär, ein paar Stockwerke tief in die Winternacht hinabzustürzen. Der Moment des Aufpralls koinzidiert mit dem Orgasmus. Ein Orgasmus, der kein neues Leben schafft, sondern ein bestehendes auslöscht: der negative Zeugungsakt.

Nach diesem Erlebnis ist man reif für die Therapie. Eine Selbsthilfegruppe wird einberufen: ein Regisseur, zwei Hauptdarsteller - und die Zuschauer. Willem Dafoe ist so einer, der kann inzwischen alles machen. Charlotte Gainsbourg hatte Angst, spürte aber den unbedingten und höheren Auftrag, sich entblößen und quälen zu lassen - wofür sie, völlig zu Recht, den weiblichen Darstellerpreis in Cannes bekam.

Für die Zuschauer ist die Teilnahme strikt freiwillig. Ausstiegsmöglichkeiten gibt es immer wieder, zwischendrin baut Lars von Trier sie ein: Die komisch-bombastische, in Superzeitlupe gefilmte Inszenierung des Anfangs etwa, oder später ein Fuchs im Wald, der plötzlich "Chaos regiert!" sagt, mit der Stimme des Meisters selbst. Niemand soll hier überwältigt oder unbewusst manipuliert werden. Schulterzucken, nervöses Weglachen ist jederzeit möglich. Wer aber dabeibleibt, darf sich dann als Teil einer doch recht intimen Schicksalsgemeinschaft fühlen.

Es geht in dieser Therapie um die Bewältigung von Ängsten. Der Mann, selbst Therapeut von Beruf, hat allerdings scheinbar vor gar nichts Angst. Man sieht ihn auch nicht erkennbar um sein Kind trauern. So unerschütterlich scheint er in seiner Selbstgewissheit, dass er fast zur Karikatur wird. Von Frauenfeindlichkeit, einem der Hauptvorwürfe gegen von Triers Kino, wird noch zu reden sein. Hier aber bleibt erst einmal festzuhalten, dass diese Figur auch männerfeindlich ist: die abendländische Vernunft in Gestalt eines Voll-Eumels. Es ist klar, dass die Weiblichkeit als solche noch eine Rechnung mit diesem Typen offenhat. Schreckliche Dinge werden ihm widerfahren, und die Schuld daran trägt er selbstverständlich allein.

Die Natur als Oberschurke?

Doch woher kommt der Schrecken? Für die Frau scheint die Antwort klar: aus der Natur. Nichts fürchtet sie mehr als den Wald. Den letzten Sommer mit ihrem Sohn hat sie in einer Blockhütte namens "Eden" verbracht, um die Abschlussarbeit für ihr Studium zu schreiben. Da muss die Phobie entstanden sein. Zu diesem Ort, fern aller Zivilisation, geht jetzt die Reise zurück: als Konfrontation mit den eigenen Dämonen, die es auszuhalten gilt.

Furchteinflößender als diese Wildnis des Lars von Trier, in Nordrhein-Westfalen gefilmt, hat man die Natur noch selten gesehen. Da nagt Ungeziefer an den Eindringlingen, Eicheln fallen wie Trommelfeuer aufs Hüttendach; jede Wurzel zieht eine Fratze, jeder Holzstoß ragt auf wie ein Scheiterhaufen; und dann diese Rehmutter, der das totgeborene Kitz halb aus dem Bauch hängt ... So war der Film wohl ursprünglich gedacht: Als perfektes, ziemlich souveränes Naturhorrorstück.

Aber Moment mal: Die Natur als Oberschurke? Das führt doch zu nichts, da sieht man doch den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ein Dank an den Produzenten, dass er diese Idee vorzeitig ausgeplaudert hat. Denn nun muss von Trier wirklich ganz tief hinabsteigen in die Keller des Unbewussten, muss die Reise zurückgehen: zurück zum Menschen, zurück zu Mann und Frau, zurück in die Jahrhunderte der Gewalt, die zwischen ihnen stehen. Mehr darf man eigentlich nicht sagen - was schwer fällt, weil sich der Raum des Films explosiv erweitert, bis hin zu Adam und Eva.

In Tiefen der Depression fürchten gelernt

Was von Trier allein in der letzten Viertelstunde an Symbolen der Grausamkeit halluziniert, zwischen Macht und Ohnmacht, Penetration und Kastration, wird die Proseminare der Genderstudies wieder für Jahrzehnte beschäftigt halten. Zum Schluss bleibt aber eine zentrale Frage: Kann es frauenfeindlich sein, wenn ein Mann die Frauen mehr fürchtet als den Teufel selbst? Bei einem mittelalterlichen Großinquisitor wäre das noch klar zu beantworten. Bei einem zeitgenössischen Regisseur wird es schon schwieriger. Da könnte nämlich plötzlich auch der Umkehrschluss gelten: Was man in den Tiefen der Depression vollständig fürchten lernt, hat man - endlich - auch vollständig respektiert.

ANTICHRIST, 2009 - Regie, Buch: Lars von Trier. Kamera: Anthony Dod Mantle. Mit: Willem Dafoe, Charlotte Gainsbourg. MFA,

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Quelle:
SZ vom 10.09.2009/jebe
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