Süddeutsche Zeitung

Im Interview: Die Grande Dame des gehobenen Geschmacks:"Massives Gold finde ich unnötig"

Lauer Herbstabend auf einer Terrasse hoch über Paris: Die zarte, schwarzgekleidete Andrée Putman bahnt sich ihren Weg durch champagnertrinkende Grüppchen. Madame ist die französische Stil-Botschafterin schlechthin, und jetzt spricht sie mit uns.

Rebecca Casati und Johannes Willms

Andrée Putman wurde als Andrée Aynard am 23. Dezember 1925 in Paris geboren. Sie gilt als eine der führenden Innenarchitektinnen unserer Zeit. Berühmt wurde Putman durch das von ihr gegründetete Unternehmen Ecart, das Möbelklassiker aus den dreißiger Jahren neu auflegte. Ihr minimalistischer Stil prägt die Privatwohnungen von James Brown und Karl Lagerfeld, Luxushotels weltweit und das Interieur-Design der Fluglinie Concorde. Vor ihrer Zeit als Innenarchitektin arbeitete sie als Journalistin, Stylistin und Designerin in der Modebranche. Dabei förderte sie Talente wie Jean Paul Gaultier, Issey Miyake oder Thierry Mugler. Sie war viele Jahre lang mit dem Kunsthändler Jacques Putman verheiratet.

SZaW: Madame, es ist gar nicht so einfach, Ihnen einen Beruf zuzuordnen, denn Sie haben es hier in Frankreich auf sehr vielen Gebieten zu Berühmtheit gebracht. Einrichtung, Design, Mode, Architektur - die Franzosen sagen, in Ihnen manifestiere sich der moderne französische Geschmack.

Andrée Putman: Das sagen sie heute! Aber ich bin auch eine der Französinnen, die fünfundzwanzig Arbeitsjahre lang völlig unbekannt waren. Und von einem Tag auf den anderen hatte ich in allem recht! Als es soweit war, habe ich es zunächst überhaupt nicht begriffen. Es war wie eine kalte Dusche, oder nein, eher wie eine warme Dusche nach vielen kalten!

SZaW: Wir würden gerne von einer Koryphäe wie Ihnen erfahren, was guter Geschmack ist. Woran man ihn erkennt.

Putman: Wird das eigentlich gerade ein Interview?

SZaW: Ja. Enden werden wir natürlich mit dem Schlachtruf: ,,Vive la republique"!

Putman: Natürlich. Wie immer!

SZaW: Sie stammen, apropos Republik, von einer der ersten Familien des französischen Großbürgertums ab, den Montgolfières, die den Heißluftballon erfunden haben.

Putman: Das ist wahr.

SZaW: Sie haben das Höhere-Töchter-Dasein, die Atmosphäre im feinen 6. Pariser Arrondissement allerdings immer als bedrückend empfunden.

Putman: Ja, schon als kleines Mädchen fand ich, dass man die Häuser unserer Eltern verändern müsste. Ich wollte den bourgeoisen Nippes, die ganzen kleinen Dinge entfernen und stattdessen große Gemälde anbringen. Ich hatte schon sehr früh modernistische Träume, obwohl ich nur sehr wenige moderne Häuser gesehen hatte. Die, die ich kannte, trugen die Handschrift damals noch unbekannter Namen und waren sehr künstlerisch und fortschrittlich eingerichtet, mit vielen erstaunlichen Details, die man heute so gar nicht mehr machen könnte. So, wie diese Häuser waren, so wollte ich schon damals die Welt betrachten: anders und neu. Und damit stieß ich auf Unverständnis in meiner Umgebung. Gewöhnlich ist alles Neue den Franzosen suspekt, gerade den alteingessenen. Sie haben große Angst davor.

SZaW: Ihr Ausweg aus dem bourgeoisen Käfig war schon früh die Kunst. Allerdings eine andere als die, die für Sie vorgesehen war; Ihre ehrgeizige Mutter wollte, dass Sie Pianistin werden.

Putman: Um jeden Preis.

SZaW: Und Sie mussten jeden Tag üben, üben, üben und durften hinterher zur Belohnung den Louvre durchstreifen.

Putman: Ja, und das hat meinen Geschmack geprägt.

SZaW: Später saßen Sie stundenlang im Café Flore, um die von Ihnen bewunderten Künstler Giacometti, Artaud, Sartre und de Beauvoir kennenzulernen. Es waren die fünfziger Jahre, Sie waren eine junge Frau. Waren Sie denn gar nicht schüchtern?

Putman: Nein. Das Exzentrische, Menschen, die anders dachten und seltsame Sachen trugen, die man nicht in Läden findet, haben mich schon immer angezogen. Viele kamen auch zu uns nach Hause, auf die Partys meiner Eltern. Wir waren sogar so eine Art Zuflucht für die Künstler dieser Zeit, ich wuchs mit ihnen auf, mit vielen freundete ich mich an, zum Beispiel mit Samuel Beckett, der später den Nobelpreis bekam. Er brauchte viel Zeit für sich und diesem Bedürfnis wurde er gerecht, indem er alle seine Künstlerfreunde zu uns nach Hause schickte, damit wir sie empfingen, sie bewirteten und sie mit auf Reisen nahmen. Besonders gut erinnere ich mich an einen jungen Holländer, einen Maler, der immer sehr verlassen und allein wirkte. Wir haben ihn aufgenommen und ihm gute Laune gemacht. Er hieß Bram van Velde und wurde später sehr bekannt.

SZaW: Mit 19 Jahren rebellierten Sie. Sie weigerten sich, eine klassische Musikausbildung zu beginnen und wurden stattdessen Laufbursche und Locationscout bei der Modezeitschrift ,,Femina''.

Putman: So fing alles an, ja.

SZaW: Später gründeten Sie eine Kreativ-Agentur, richteten Wohnungen und Büros von Staatsmännern, Restaurants, ganze Hotels und Boutiquen von Designern ein und ließen vergessene Designermöbel neu auflegen. Aber Sie haben auch Produkte für das Versandhaus ,,3 Suisses'' entworfen. Und das Innenleben der Concorde stammte auch von Ihnen.

Putman: Ich bin wohl eine merkwürdige Person, denn ich klammere mich absolut nicht an ein einseitiges Image. Ich fühle mich mit Menschen jeglicher Couleur, mit Künstlern aller Richtungen und Bekanntheitsgrade verbunden. Ich habe sehr umfangreiche Aufträge vom Staat bekommen, die höchste politische Prominenz, die großen französischen Minister baten mich, ihre Wohnzimmer zu gestalten, und es war mir ein Vergnügen. Aber ich habe tatsächlich genauso gern für riesige Versandhausketten oder für die Concorde gearbeitet. Zuletzt habe ich für Louis Vuitton eine klassische Tasche redesignt, die einst für Schmutzwäsche entworfen wurde. An dem Ursprungsmodell ist nicht viel Dekoratives, denn sie steht ja einfach nur im Badezimmer ihres Besitzers. Ich fand den Gedanken ganz bezaubernd, ihre reine Funktion auszutricksen, damit die Tasche kein so eintöniges Dasein mehr fristet. Ich habe sie also mit schwarz-weißen Karos verziert, einem meiner Lieblingsmuster.

SZaW: In den sechziger Jahren kamen Sie auf den Gedanken, die Kunst zu demokratisieren. Sie brachten Künstler wie Niki de Saint Phalle dazu, Lithographien anzufertigten und zu signieren. Die haben sie dann zu für hundert Francs im Kaufhaus Prisunic verkauft; also große Kunst für die große Masse.

Putman: Ich will nicht klingen wie eine Heilige. Aber ich liebe Menschen und den Gedanken, ihnen Dinge zu bieten, in die sie sich auf der Stelle verlieben, und die sie sich, selbst wenn sie nicht vernünftig sind, leisten können. Denn der Preis ...

SZaW:... ist ja vernünftig.

Putman: Um nicht zu sagen: sogar relativ niedrig. Ich mag die Vorstellung, alles für alle zu verschönern. Alle Kinder sollen hübsch gekleidet sein, ihre Stühlchen sollen hübsch bemalt sein, die Häuser, in denen sie wohnen, sollen Geist und Charme versprühen.

SZaW: Sie sind Autodidaktin. Aber gleichzeitig gelten Sie als Meisterin des Designs.

Putman: Welch ein Widerspruch!

SZaW: Schon, oder?

Putman: Aber ja. Ich habe keine Schulen besucht. Oft nehmen gerade Schulen den Leuten ihre Spontaneität und die Freiheit, verschiedene Stilrichtungen zu mischen und ihren Humor einzubringen. Und all das ist mir sehr wichtig.

SZaW: Wie gehen Sie vor, wenn Sie den Auftrag erhalten, ein Haus oder eine Wohnung einzurichten?

Putman: Ich beginne mit dem ,,Porträt''; so hat es Bernard-Henri Lévy mal genannt. Farben, Formen, Designtechniken können einen Ort sehr überladen oder im Gegenteil: sehr leer wirken lassen, und in allem stecken viele subtile Nuancen. Es lohnt sich also, sich die Person, die dort wohnen wird, genau anzusehen, eben ein Porträt von ihr anzufertigen, damit das Ergebnis ihrer Persönlichkeit so nahe wie möglich kommt. Ein menschliches Wesen sendet sehr viele Signale aus.

SZaW: Welche konkreten Fragen stellen Sie Ihren Klienten?

Putman: Oh, es gibt persönliche Fragen, die ich niemals zu stellen wagen würde. Ich kann unmöglich fragen: ,,Schlafen Sie gemeinsam mit Ihrer Frau, oder haben Sie Ihr eigenes Zimmer?'' Außerdem interessiert mich das auch nicht. Ich will stattdessen wissen, wie mein Klient lebt, was er in seiner Freizeit macht, wie häufig und wieviel Besuch er bekommt. Ob er reich ist, und wie gern er zeigt, dass er auf hohem finanziellen Niveau lebt. Ob er sich dabei wohlfühlt.

SZaW: Haben Sie bei der Arbeit nicht viel mehr Spielraum, wenn ein Klient reich ist?

Putman: Absolut nicht. Gerade weil ich so viele junge Künstler kenne und verehre, hatte ich schon oft Gelegenheit, Leute zu beraten, die wirklich wenig Geld besaßen, aber einen sicheren Blick dafür hatten, was es auf Flohmärkten für bezaubernde Dinge zu entdecken gibt. Es ist eine Freude, für sie zu arbeiten! Demonstrativer Luxus ist dagegen häufig nichts weiter als ein Mittel zur Einschüchterung, ein Ausdruck dessen, dass mächtige Leute gerne unterstreichen, wie weit entfernt sie von allen anderen sind. Es ist noch lange kein Beweis für Geschmack. Einfache Leute können keine Unsummen für Uhren und Autos ausgeben, aber sie haben vielleicht eine sehr schöne Uhr von - wie heißt noch der geniale Monsieur, von dem diese billigen Uhren sind? Ach - ja, ja, ja - Swatch-Uhren, voilà. Eine Swatch hat mehr Chic als so manche mit kostbaren Steinen besetzte Uhr. Ich habe schon so viele teure Uhren von großen Juwelieren gesehen, die einfach schrecklich aussahen, schrecklich!

SZaW: Was ist für Sie eine gewöhnliche Farbe?

Putman: Die gibt es nicht. Alle sind schön oder werden es neben einer anderen Farbe.

SZaW: Gibt es ein Material, dass Sie niemals verwenden würden?

Putman: Massives Gold finde ich unnötig. Ich stehe nicht in dem Ruf, bei der Einrichtung wertvollen Materialien den Vorzug zu geben. Ich bin eher dafür bekannt, dass ich günstiges Mobiliar besonders wertvoll erscheinen lassen kann, durch die Mischung aus Wertvollem mit Einfachem, und immer auf der Basis von Bescheidenheit. Ausgerechnet zu mir kommen aber häufig Leute, die sagen: ,,Wissen Sie was? Meine Wasserhähne sind aus purem Gold, mit Prägung - würde es Ihnen Spaß machen, sie mal anzuschauen?'' Ich muss ihnen dann leider jedes Mal antworten: ,,Nein, das würde mir keinen Spaß machen, goldene Wasserhähne sind sogar das Ödeste, was ich mir vorstellen kann.''

SZaW: Sie haben gesagt, dass Sie zunächst das Porträt eines Menschen erstellen, wenn Sie sein Zuhause einrichten. Wie gehen Sie bei einem Hotel vor, in dem Unmengen Leute ein- und ausgehen?

Putman: Auch da gibt es eine Orientierung, einen Mittelwert. Man muss sich vorher überlegen, wie der typische Gast aussehen wird, denn eins ist klar: Jedes Hotel sortiert seine Gäste vor. Wie sie leben, wenn sie nicht im Hotel sind, woher sie kommen, wie sie ihre Ferien verbringen, ob sie sportlich sind oder aber eher intellektuell. Denn solche Kriterien spielen ja auch umgekehrt eine Rolle, wenn ein Mensch sich ein Hotel aussucht.

SZaW: War es schwieriger, für Kunden wie Balenciaga, Lagerfeld oder Yves Saint Laurent zu arbeiten? Immerhin waren und sind die berühmt für ihren eigenen exquisiten Geschmack.

Putman: Es war nicht schwieriger, für sie zu arbeiten, eher delikater. Es erfordert sehr viel Einfühlungsvermögen, denn solche Leute haben selbst Talent und Ideen, und zwar oftmals geniale, also gehe ich da sehr vorsichtig heran.

SZaW: Wenn es stimmt, dass das Leben komplizierter ist für den, der das Schöne vom Abscheulichen unterscheiden kann - dann ist Ihr Leben sehr kompliziert, richtig?

Putman: Oh, in meinem Beruf ist man schon sehr unangenehmen Dingen ausgesetzt. Manche Probleme sind ganz handfester Natur, wie die Verzögerung bei der Kreation eines Möbelstücks, einer Farbe oder einer Einrichtung. Auch ärgerlich ist, wenn man erst mitten in der Arbeit vom Kunden erfährt, dass er eigentlich eine Villa im Landhausstil wollte: ,,Oh, ich habe vergessen zu erwähnen, dass ich ein Landhaus wollte!'' ,,Tja, aber nun ist es zu spät, es ist absolut kein Landhaus geworden!'' ,,Ach du jemine...?!?'' Und so weiter. Also, viele Leute wissen jedenfalls herzlich wenig über unser Metier.

SZaW: Sie wohnen in Paris, einer der schönsten Städte der Welt. Gibt es da ein Gebäude, das tagtäglich Ihr Auge beleidigt?

Putman: Oh, da gibt es einige, aber ich werde keines davon nennen, denn das wäre zu herb, ich würde Kollegen aus meiner Branche damit schaden, und ich gehöre auch nicht zu denen, die anderen gerne Lektionen erteilen. Ich mag es nicht, wenn meine Entscheidungen richtungsgebend sind für die Meinungen anderer. Damit spiele ich nicht. Wenn ich ihre Arbeit scheußlich finde, finde ich sie scheußlich, voilà. Das soll aber sie nicht stören.

SZaW: Der billigste Gegenstand, der bei Ihnen einen Lieblingsplatz hat?

Putman: Ah, darauf gibt es eine reizende Antwort. Es handelt sich bei diesem Gegenstand nämlich um ein Geschenk, das ich unter besonderen Umständen in Moskau bekam, als ich mit meinem guten Freund, dem französischen Kulturminister, auf Studienreise war. Eines Abends hatten wir keinen besonderen Hunger, und da wir nicht einmal rausgehen wollten, ließen wir uns einfach Tee und etwas Gebäck aufs Zimmer bringen. Als ich die Teekanne auf dem Tablett sah, rief ich: ,,Oh! - diese Teekanne würde ich glatt stehlen, so schön ist sie!'' Ich nahm ein Stück Gebäck, und mein Freund, der Kulturminister, sagte leise zu mir: ,,Da gibt es etwas, das mich ein wenig beunruhigt: Ich wollte dich nur daran erinnern, dass man uns die ganze Zeit zuhört, wir werden hier in allen Zimmern abgehört, und dafür sprichst du ein wenig zu unbekümmert...'' Oh mein Gott, das hatte ich nicht gewusst, und auch wenn man es weiß, denkt man nicht unausgesetzt daran. Als wir dann abreisten, kam ein Herr, der sehr fröhlich dreinschaute, sehr amüsiert. Er hatte ein großes Paket dabei, und er überreichte mir, in die Prawda eingewickelt ... die Teekanne! Ich liebe sie bis heute, und sie hat mich gar nichts gekostet, denn sie war ja ein Geschenk.

SZaW: Und welcher ist Ihr kostbarster Lieblingsgegenstand?

Putman: Das ist eine Zeichnung von einer Bildhauerin, Louise Bourgeois. Einmal hat sie mir einen Streich gespielt. Ich war Studiogast in einer einstündigen Radiosendung. Und plötzlich hieß es, sie sei am Telefon. Ich hielt das für einen Schabernack und sagte: ,,Entschuldigen Sie, aber das ist nicht möglich, dass man mich hier anruft. Mein Büro, meine Freunde, niemand stört mich hier - ich verstehe das überhaupt nicht.'' Doch dann hörte ich plötzlich ihre Stimme, die sagte: ,,Tja, dann war es ja gar nicht nötig, dass ich mich deinetwegen habe wecken lassen; bei mir ist es nämlich schon drei Uhr morgens.''

SZaW: Es ist wahrscheinlich sehr schwierig, einer Frau wie Ihnen etwas zu schenken.

Putman: Das sagen mir alle. Aber das ist purer Geiz! Eine Ausrede, um Geld zu sparen! Aber mir ist das auch nicht wichtig, ich bin eher jemand, der sein Haus frei räumt, als es voll zu stellen.

SZaW: Mögen Sie eigentlich auch das eine oder andere hässliche oder völlig alberne Ding?

Putman: Oh ja! Ich habe eine richtige Sammlung, eine ganze Vitrine voll mit lächerlichem Zeug. Babyschuhe aus Pfefferkuchen - völlig groteske Sachen eben. Schauderhaft, aber sehr ansprechend, dieses Kästchen. Es steckt viel Humor drinnen.

SZaW: Wie steht es mit geschmacklosen Fernsehsendungen?

Putman: Oh nein! Die wiederum deprimieren mich zu sehr. Ich habe einmal dieses ,,Big Brother'' eingeschaltet, und da sagten sie einem Kandidaten gerade: ,,Sie sind raus, verschwinden Sie, Sie sind nicht mehr dabei.'' Ich hatte Tränen in den Augen. Vielleicht wurde so eine Karriere zerstört? Mir tut so etwas schrecklich leid!

SZaW: Gibt es denn etwas wie den erlesensten Moment eines Tages?

Putman: Ich habe da sehr viel mehr Vertrauen in die Nacht. Sie kann Geheimnisse bewahren und das Gute in Leuten hervorbringen. Am Tag herrscht die Rivalität, erst abends geht es wieder freundschaftlicher zu. Nachts sind wir auch weniger angespannt und haben mehr Wagemut, schon durch das gedämpfte Licht. Die Nacht fördert die Kühnheit, die man an einem hell beleuchteten Ort nicht hat, an dem alles, was nicht vorteilhaft ist, offenliegt.

SZaW: Die schönste Linie, die Sie kennen: Wurde die von Menschenhand oder von der Natur gezeichnet?

Putman: Oh, von der Natur: Die Silhouetten von hintereinanderstehenden Hügeln, zart mit sehr, sehr beweglichen Formen und Linien, ein Umriss, den man dann nur mit Bleistift, einer Feder oder mit Chinakreide zeichnen kann. Das finde ich am schönsten.

SZaW: Welche Körperpartie ist in Ihren Augen die ästhetischste?

Putman: Die Schultern. Schöne Schultern verleihen einem Körper Ganzheit, Geschlossenheit, Harmonie.

SZaW: Und welche Geste zeugt von besonders gutem Stil?

Putman: Ich gebe Ihnen lieber ein Beispiel eines unvorteilhaften Verhaltens: Wenn jemand verheimlicht, dass er einen anderen liebt. Eine große Liebesgeschichte, die aus Geheimnistuerei zum Scheitern verurteilt ist, ärgert mein Geschmacksempfinden.

SZaW: Madame, was ist für Sie schlimmer: Mittelmäßigkeit oder Arroganz?

Putman: Mittelmäßigkeit! Sie steht sinnbildlich für Verfall, für Traurigkeit. Wer mittelmäßig ist, tut anderen Unrecht, tut sich selbst Unrecht. Das ist der Absturz, das Gegenteil von Vive la Republique, der völlige Niedergang sozusagen. Und danach geht es auch nicht wieder aufwärts!

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Quelle:
SZaW v. 25./26.11.2006
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