Im Gespräch: Tilda Swinton:Frau oder Mann?

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SZ: Die Frage nach Identität und Verwandlung ist für Sie zentral, auch durch Ihre bekannte Figur in Orlando, die sich von einer Frau in einen Mann verwandelt. Haben Sie sich je gewünscht, ein Mann zu sein?

Swinton: Nein. Es war mir immer sehr offensichtlich, dass ich kein männliches Wesen bin. Ich habe drei Brüder. Ich wuchs in einem sehr männlich orientierten Elternhaus auf. Für die Brüder war klar, was es für sie zu tun gab. Sie gingen auf die Jagd, zum Fischen, für sie lagen all die Lebensplanerzählungen bereit: Ihr werdet in die Schule gehen, in die schon euer Vater und Großvater gingen, und so weiter. Das hat deren Kindheit und deren Leben bis heute bestimmt. Davon war ich ausgeschlossen. Natürlich gab es eine Zeit, in der es mir gar nicht gefiel, derart ausgeschlossen zu sein. Aber heute bin ich dafür sehr dankbar.

SZ: Aber könnte es nicht verlockend sein, beides zu sein: Frau und Mann?

Swinton: Tatsächlich habe ich Schwierigkeiten damit, wenn jemand behauptet: Ich fühle mich zu hundert Prozent als Mann, oder: Ich fühle mich zu hundert Prozent als Frau. Diese Art absoluter Identitätsbehauptung erscheint mir sehr rätselhaft und unverständlich. Im Vergleich dazu fühle ich mich ungeformt und fließend. Ich war wohl ein ganz hübsches Kind, aber dann, so ab neun oder zehn, war ich gar nicht mehr hübsch. Was, wie wir wissen, ein großer Vorteil ist. Ein hübscher Teenager zu sein, muss ein Albtraum sein. Dann geriet ich in diese merkwürdige Art von Androgynität. Ich war all das, was man als Mädchen keinesfalls sein will: unglaublich groß, unglaublich mager, unglaublich unscheinbar. So war es mir möglich, jahrelang als sexuelles Wesen im Verborgenen zu bleiben.

SZ: Änderte sich daran etwas, als Sie im Internat waren?

Swinton: Ich besuchte ein Mädchen-Internat, auf dem es sehr streng zuging: kein Make-up, keine Jungs, keine Partys, keine Popmusik. Das war ganz schrecklich, dass es da keinerlei Zugang zur Pop-Kultur gab. Da werde ich noch heute zornig, wenn ich daran denke. Als Teenager von der Popmusik ferngehalten zu werden, das heißt: von deiner Generation ferngehalten zu werden, auch in gewisser Weise vom Sex. Als Teenager ist es, denke ich, sehr wichtig, mit den sexuellen Impulsen der Popmusik verknüpft zu sein. Ich kaufte mir 1973, als Dreizehnjährige, mein erstes Album: David Bowies Aladdin Sane, obwohl ich gar keinen Plattenspieler hatte. Über viele Jahre bewahrte ich die Platte auf, bis ich sie mir anhören konnte. Irgendwie schaffte ich es, mich durch diese Schulzeit hindurch zu winden, indem ich mir eine andere Art von Identität verschaffte. Ich sah mich als Dichterin. Wenn ich heute erlebe, dass meine elfjährige Tochter Gedichte schreibt und verkündet: "Ich bin eine Poetin", dann erkenne ich da etwas wieder.

SZ: Als Sie dann in Cambridge Soziologie und Literatur studierten, wurden sie Mitglied der Kommunistischen Partei. Eine Geste der Provokation gegenüber Ihrem adligen Elternhaus?

Swinton: Nein. Solch ein Verhältnis hatte ich zu meinen Eltern nie. Ich habe das oft scherzhaft gesagt, aber es ist etwas Wahres dran: Als meinen Eltern klar wurde, dass ich keinen Grafen heiraten werde, ließen sie mich ziehen. Etwa so: Wir wissen nicht, was unsere Tochter in dieser Welt anderes machen könnte, als einen Grafen zu heiraten, also lassen wir sie mal. Sie haben mich immer auf eine freundliche, wohlwollende Weise vernachlässigt. Das war großartig.

SZ: Großartig?

Swinton: Wenn du als Kind viel allein gelassen wirst, dann mag dir das gar nicht gefallen, aber es kann wirklich gut für dich sein - weil du dann ein reiches inneres Leben entwickelst. Wenn du zu sehr unter Leuten bist, dich allzu geborgen fühlst, fehlt die Herausforderung, innerlich zu wachsen.

"The Invisible Frame", 3sat, Sonntag, 8. November, 21.45 Uhr.

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