Im Gespräch: Konrad Boehmer:"Ein lächerlicher Clown"

Meisterhaft scharf gezüngelt: Vom ehemaligen Weggefährten bis zum Weltgeschehen - bei Komponist Konrad Boehmer bekommt jeder und alles sein Fett weg. Und Marcel Reich-Ranicki sowieso.

Alexander Gorkow

Bei Konrad Boehmer um die Ecke in Amsterdam haben sie auf einem Viereck die Straße aufgerissen. Boehmer steht im Nieselregen und sagt: "Da hat Spinoza gewohnt. Die gießen den Sockel für das Denkmal. Wirklich wahr!" Das Interview ist ganz oben - in seiner Wohnung in der Jodenbreestraat. Auf der Terrasse steht ein Bäumchen. Boehmer hatte den Setzling bei einem Gastspiel in Nordkorea ausgegraben und in der Hosentasche nach Holland geschmuggelt.

Im Gespräch: Konrad Boehmer: Was für die einen eine Katatstrophe ist, ist für Konrad Boehmer "ein gewisses Chaos".

Was für die einen eine Katatstrophe ist, ist für Konrad Boehmer "ein gewisses Chaos".

(Foto: Foto: Pieter Boersma)

SZ: Herr Boehmer, Ihr Mentor Karlheinz Stockhausen setzte die Katastrophe voraus, um in eine glorreiche Zukunft...

Konrad Boehmer: ... nicht nur Stockhausen, auch Nietzsche und so weiter. Erst Tod, dann Verklärung.

SZ: Demnach leben wir in prächtigen Zeiten.

Boehmer: Die meinten das. Aber Goldene Zeitalter sind Unfug, wenn Sie mich fragen.

SZ: Es gab sie nicht? Müssen Sie doch wissen, als Komponist . . .

Boehmer: Manchmal sieht es nur später so aus. Es ist aber immer nur Eisen oder Blech.

SZ: Was würde Stockhausen sagen zur kapitalistischen Katastrophe?

Boehmer: Ist es denn eine?

SZ: Würde er das fragen?

Boehmer: Nein, das frage ich Sie. Nicht mal dass Stockhausen tot ist, ist eine Katastrophe.

SZ: Wenn viele Menschen Arbeit verlieren?

Boehmer: Ich wehre mich gegen die Unterstellung, dies zu verharmlosen, nur weil ich frage, ob es eine Katastrophe ist. Wir haben eine Krise. Ein gewisses Chaos.

SZ: Was ist eine Katastrophe?

Boehmer: Eine Katastrophe ist, was in ein paar Milliarden Jahren eintritt. Friedrich Engels nannte das den "notwendigen Fall der Erde in die Sonne". Ich mag diesen kosmischen Darwinismus. Rezessionen sind so alt wie der Kapitalismus. Denken Sie an die niederländische Tulpenkrise! Die Alte Börse steht keine zwei Minuten entfernt von hier. Luftbuchungen gab es schon 1637. Das sind Tendenzen.

SZ: Tendenzen? Ein solches Chaos?

Boehmer: Ich finde die Hysterie der Medien hoch abenteuerlich. Es wird übrigens auch in keinem Gewerbe so hochneurotisch auf das Chaos dieser Monate reagiert. Diese heiße Sehnsucht des Meinungsgewerbes entweder nach dem Himmelreich - oder eben nach dem Untergang.

SZ: Also, es hätte Stockhausen gefallen.

Boehmer: Wir sollten auf Stockhausen pfeifen, glauben Sie mir das! Er war manchmal genial, gleichzeitig war er wirklich der perfekte Idiot. Mit faschistoiden Gelüsten. Er bezeichnete die Attentate vom 11. September als "größtes Kunstwerk", was auch im Sinne eines radikalen Ästhetizismus - der die Toten sozusagen außen vor lässt - überhaupt gar nicht zu entschuldigen ist. Derlei Geschwafel Stockhausens steht in einer Tradition mit anderen Avantgardisten oder Futuristen. Denken Sie an Marinetti, der den Krieg als "sublimes Kunstwerk" bejubelte.

SZ: Auch Damien Hirst war angetan vom Anblick der explodierenden Hochhäuser . . .

Boehmer: Natürlich. Das sind, in diesem Stadium, tote Künstler. Die leben nur über ihre Signatur. Gut, dass Stockhausen nicht in die Politik gegangen ist.

SZ: Katastrophe bedeutet "Vernichtung", aber eben auch "Wendung".

Boehmer: Wendung hin oder her, dem Universum ist es ja egal, wenn die Erde in die Sonne fällt. Da macht es in der Unendlichkeit irgendwo plopp. Diese rasende Sinnlosigkeit, die ist für viele von uns die eigentliche Katastrophe, nicht wahr?

SZ: Glauben Sie an Gott?

Boehmer: Nein. Und Priester und Päpste sollten auch nicht immer sagen, dass sie an ihn glauben. Wenn sie sicher sind, dass es ihn gibt, so brauchen sie nicht an ihn zu glauben. Es gibt ihn oder eben nicht.

SZ: An Unsichtbares kann man halt nur glauben.

Boehmer: Liebe, Hass, Triebe, Aktienwerte, alles unsichtbar. Und doch handfest.

SZ: Also: Gott gibt es nicht?

Boehmer: Woher soll ich das wissen? Der französische Philosoph Michel Onfray sagte, wenn es Gott gibt, so hat er sich geirrt. Der trostspendende Gott ist jedenfalls ein Kindermärchen. Das Universum ist ein unendlicher Prozess. Kein Anfang. Kein Ende. Es gibt keinen Gott, der die Kugel ins Rollen brachte. Dieser stets Angeflehte ist eine Erfindung derer, die seiner als Machtmittel bedürfen. Oder eben als Trostmittel.

SZ: Die Menschen brauchen einen Sinn.

Boehmer: Aber Sinn muss man erzeugen! Der wächst doch nicht aus der Erde, und er fällt auch nicht vom Himmel. Vergessen Sie mal den sinngebenden Gott . . .

SZ: Dann ist nicht mal Clapton Gott?

Boehmer: Nein, er schafft - an großen Abenden - innerweltliche Transzendenz. Aber das schafft der allein. Ohne Gott. Sogar ohne Papst! Das schaff' ich übrigens auch.

SZ: Ich auch?

Boehmer: Sie auch.

SZ: Nie im Leben.

Boehmer: Doch, doch.

SZ: Hilft Atheismus im Chaos?

Boehmer: Das ist die falsche Frage.

SZ: Wieso das denn?

Boehmer: Der Atheismus ist keine Trostindustrie! Die Kirche ist eine. Die Kulturindustrie ist eine. Vom Atheismus haben Sie nichts zu erwarten. Er erfordert Tapferkeit. Aber ich verurteile das Beten nicht. Wir sind ja allesamt windelweich.

SZ: Ich nicht.

Boehmer: Sie auch. Und Atheismus hin oder her. Was soll ich denn der armen katholischen Bauersfrau sagen? Deinen Gott gibt es nicht? Liest die trostsuchende Frau dann Spinoza und läuft zur Aufklärung über? Ich muss ja auch als Atheist Humanist sein, also Menschenfreund, oder?

SZ: Wenn Sie sich die Gegenwart als Konzert vorstellen, Herr Boehmer, was hören Sie?

Boehmer: Ein bürgerliches Salonkonzert. Biedermeier. Blümchentapeten-Biedermeier.

SZ: Ist es nicht ulkig, dass das Chaos Biedermeier gebiert? In der Popmusik, scheue Mädchen mit weidwundem Blick . . .

Boehmer: ... auch in der Ernsten Musik gibt es eine schamlose Rückwendung. Großes Biedermeier in England. Junge Leute, die komponieren wie Richard Strauss. Der junge Robert Schumann war dabei übrigens immer ein Avantgardist. Der Held seines persönlichen Biedermeiertraums war der Komponist Friedrich Kalkbrenner. "Gedanken, wo seid ihr?" pfiff Kalkbrenner. Gute Frage, oder?

Lesen Sie auf Seite 2, warum Ernste Musik sich nicht für Schäferstündchen eignet .

"Ein lächerlicher Clown"

SZ: Wieso spiegelt sich in der heutigen Popkultur nicht das Chaos der Wirklichkeit?

Boehmer: Muss es das? Kunst tobt sich gerne aus, wenn die Wirtschaft boomt. Denken Sie an die furiosen 60er Jahre, an diesen Mix aus gesellschaftlicher Repression und wirtschaftlichem Boom. Wir hatten alle Freiheiten, auf den Putz zu hauen - und wir haben noch gut verdient dabei. Nur, ich sprach eben davon, dass es kein Goldenes Zeitalter gibt. Die 60er waren auch keins, auch hier: Eisen und Blech.

SZ: Vor allem . . .

Boehmer: Vor allem Blech. Ja. Das Biedermeier der Gegenwart ist dagegen eine rührende, trostsuchende Geschichte...

SZ: . . . da sind wir wieder bei Gott, oder?

Boehmer: Beim Gottersatz einer Kulturindustrie, die psychische Bedürfnisse befriedigt. Indem sie Betten mit Versatzstücken der zerfallenden Hochkultur aufplustert. Marx hat auch das vorhergesagt. Ich finde diese Tendenzen künstlerisch uninteressant, aber nicht dramatisch. Über ihre Trostfunktionen hinaus sind sie historisch übrigens auch logisch.

SZ: Warum?

Boehmer: Weil das Innovationspotential der Kunst zum Stillstand gekommen ist.

SZ: Der Kunst allgemein?

Boehmer: Ja, vor allem das technische Innovationspotential der Musik.

SZ: Muss denn immer alles innovativ sein?

Boehmer: Nein. Eben. Muss es nicht. Innovationen um der Innovationen willen sind Rennautos ohne Bremsen. Da folgt dann, wie man weiß, ein recht totaler Stillstand.

SZ: Woraus resultiert der Stillstand?

Boehmer: In der Musik aus einem System, das sich so lange mit ästhetischen und pseudowissenschaftlichen Versprechungen überladen hat, bis es zusammengekracht ist.

SZ: Eine Implosion?

Boehmer: Ja. In der Ernsten Musik hat dies zu einer hanebüchenden Rationalisierung geführt und in der Unterhaltungsmusik zum reinen Hedonismus. Die eine zehrt von der Mathematik, die andere von der Psychologie. Beide Formen haben nur noch für den Apparat produziert, nicht mehr für den Menschen. Und sie tun es heute noch.

SZ: Erklären Sie das?

Boehmer: Unterhaltungskünstler produzieren heute für einen Markt, der alle 60 Sekunden nach einer Innovation schreit. Die produzieren nur noch für den Supermarkt. Läuft das Produkt nicht sofort, fliegt es aus dem Regal. Ähnlich wie inzwischen auch im Literaturbetrieb. Die Folgen sind verheerend, weil die Unterhaltungsmusik so ihre Bindungs- und Trostfunktion verliert: Denken Sie an Bob Dylan, an Leonard Cohen, die Beatles, Pink Floyd, wie lange Hörer dieser Musik jeweils Zeit hatten, über die Krisen solcher Musiker hinweg, eine Bindung gedeihen zu lassen. Wie bei Bach, Schubert oder Mahler.

SZ: Und die Ernste Musik . . .

Boehmer: ... erging sich in Publikumsverachtung. In meinen Kreisen war die Religion ja nicht Gott, unsere Religion hieß: Theodor Wiesengrund Adorno!

SZ: Beschreiben Sie Ihre Kreise?

Boehmer: Das waren eher Fußangeln als Kreise! In den späten 50er Jahren die Komponisten der "Kölner Schule", also Stockhausen, Kagel und Gottfried Michael Koenig, B.A. Zimmermann. Auch der ewig grinsende John Cage. Und der freigiebige Sponsor WDR. Teddy Adorno hüpfte da vom einen zum andern. Unsichtbar im Hintergrund: die CIA.

SZ: Bitte? Die CIA?

Boehmer: Na klar. Mit einem adornitisch-manichäischen Weltbild: im Westen das Gute, im Osten alles Schlechte. Die "Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik" waren eine Initiative der amerikanischen Militärregierung. Der Congress of Cultural Freedom, eine CIA-Organisation, veranstaltete schon 1954 in Rom einen Kongress, um Avantgarde-Musik zu promoten.

SZ: Die CIA? Großartig.

Boehmer: Der Komponist Nicolas Nabokov war bis 1963 der Generalsekretär. Und der hochintelligente CIA-Hauptverantwortliche Michael Josselson war Spezialist für psychologische Kriegsführung.

SZ: Und Adorno?

Boehmer: Die Amerikaner hatten sich tatsächlich von Adorno einreden lassen, dass eine emanzipierte Kunst eine emanzipierte Gesellschaft zur Folge hat - und dass eine Katastrophe, wie der Nationalsozialismus eine war, so verhindert werden könne. Adorno hatte in vielem recht, aber hier nicht. Auch Zwölftonmusik hätte Hitler nicht verhindert.

SZ: Was waren Sie in dieser Gesellschaft?

Boehmer: Hm . . . jung und geil.

SZ: Und sonst noch was?

Boehmer: Ja: nicht doof. Ich hab' mich deshalb bald davongemacht. 1960 brachen in Köln die Grabenkämpfe aus. Stockhausen wollte mich als Haussklaven - und als Maulwurf gegen Zimmermann und Kagel. Kagel wollte mich als Frontsau im Kampf gegen Stockhausen. Es war alle gegen alle.

SZ: Eine Keilerei unter Zwölftönern.

Boehmer: Und zwar wie unter Bauarbeitern.

SZ: Wie hat das Publikum eigentlich angefangen, die Ernste Musik zu verachten?

Boehmer: Raten Sie mal!

SZ: Es blieb weg?

Boehmer: Schlimmer: die Intelligentesten blieben weg. Ich kenne bis heute keinen Geistesschaffenden, der sich zum Schäferstündchen 'nen Stockhausen auflegt. Kürzlich fragte mich Daniel Kehlmann, ob man sich, wie er sagte, den Scheiß von Stockhausen wirklich anhören müsse? Ich hab dem die Absolution erteilt. Helmut Lachenmann, der große Purist, der schrieb einst, die tonale Musik sei durch den Kapitalismus verdorben worden.

SZ: Das klingt heute so sonderbar.

Boehmer: Das ist sonderbar. Und das sieht das Publikum deshalb auch anders als Lachenmann. Es will nicht erzogen werden, nicht von Adorno, nicht von Lachenmann. Wer Musik auf Ratio reduziert, der verhindert nicht die Verblödung der Masse. Er verekelt den Menschen die Musik.

SZ: Wo steht sie heute, die Ernste Musik?

Boehmer: Sie setzen mir zu.

SZ: Bitte, wo steht sie?

Boehmer: Im Zentrum einer erstickenden Bürokratie. Das Ziel ist nicht mehr der Zuhörer, das Ziel ist die Erhaltung des Apparates um seiner selbst willen. Denken Sie nur an das Geschrei, wenn Kürzungen von Subventionen im Raum stehen.

SZ: Verlogen?

Boehmer: Natürlich. Ich bezahle meinen Zahnarzt doch dafür, dass er ein Loch stopft, und nicht dafür, dass er Zahnarzt ist! Im Anspruch vieler E-Musik-Komponisten, vom Staat erhalten zu werden, steckt viel vom Heiligenkult des 19. Jahrhunderts. Der Subventions-Komponist degeneriert zum Staats-Komponisten. Und er degeneriert zur alten Betschwester, die von den jungen Huren vom Markt gevögelt wird. Zum Beispiel von Andrew Lloyd Webber oder Phil Glass... Das hat man dann davon.

Lesen Sie auf Seite 3, was Konrad Boehmer von Marcel Reich-Ranicki hält.

"Ein lächerlicher Clown"

SZ: Nun ist es so, dass die Leute selbst auf Skandale nicht mehr reagieren. Was ist nun mit der Umwertung aller Werte?

Boehmer: Nietzsche ist nicht gefragt, vielleicht kommt das noch. Gerade geht es nicht um die Umwertung aller Werte, sondern um die Entwertung aller Umwertungen. Interessant finde ich übrigens die Analogie zwischen Avantgarde und Kapitalismus.

SZ: Welche?

Boehmer: Diese Analogie ist doch Teil des ganzen großen Konzerts: kindlicher Glaube an pseudo-wissenschaftlichen Unsinn, mathematisch unterbaut. Bis Banker und Komponisten selbst nicht mehr verstehen, was sie verschachern. Das Neo-Biedermeier ist die Antwort. Dieses neupreußische Bürschchen-Getue in Berlin, die Dorfoperette mit dem Stadtschloss - dieses absurde Schloss wird das Denkmal unseres Neo-Biedermeier werden.

SZ: In der deutschen Literatur gibt es grad auch diese Büttenpapierprosa . . .

Boehmer: Der Grund ist derselbe wie in der Musik. Die ästhetischen Versprechungen wie technischen Möglichkeiten sind ausgereizt. Digitaler als digital geht nicht.

SZ: Und der Stillstand ist keine Katastrophe?

Boehmer: Nein. Die Glücksversprechungen der Industrie, der Apparate, sie werden gerade auf ihre gesellschaftliche Anwendbarkeit hin überprüft. Da ist es logisch, dass wir einer Phase nicht der Be-, sondern der Entschleunigung entgegengehen.

SZ: Gesellschaftliche Anwendbarkeit? Das ist ja Marxismus! Weiche, Teufel!!

Boehmer: Papperlapapp, Marxismus . . . Es gibt keinen Marxismus. Marx war doch kein Kirchenvater. Der englische Ökonom John Cassidy hat schon vor zehn Jahren gesagt, wer Marx wieder zum Leben erwecke, müsste den Nobelpreis bekommen. Im dritten Band des "Kapitals" hat Marx die Fundamente der heutigen Finanzkrise schon haarfein analysiert. Auch das "Kreditkauderwelsch des Geldmarktes" und die "Kreditschwindel" derer, die wir heute Hedge-Fonds-Manager nennen.

SZ: Was, wenn das keine Entschleunigung ist, sondern das Ende vom Kapitalismus?

Boehmer: Nein, nein. Der Kapitalismus ist die höchste Zivilisationsstufe, die wir je produziert haben. Wo wären wir ohne ihn?

SZ: Na ja.

Boehmer: Nix na ja! Wo wären wir denn ohne seine technischen und kulturellen Innovationen? Wenn wir nun gegenwärtig eine Art gesamtgesellschaftliche lahme Hüfte diagnostizieren - Morbus Biedermeier also - , so ist auch das nicht zu unterschätzen. Wer weiß, was daraus entsteht?

SZ: Vielleicht nichts? Was, wenn Ihre schöne Dialektik nicht aufgeht?

Boehmer: Schauen Sie sich mal die orginale Biedermeierepoche an, die 30er und 40er Jahre des 19.Jahrhunderts. Was bitte ist aus dieser Sättigung nicht alles entstanden!

SZ: Hm, in Ordnung, der sehr wunderbare Robert Schumann . . .

Boehmer: Na eben! Im Schatten dieser gigantischen Innovationen, der Eisenbahn, des Telegraphen, da komponierte Schumann seine abenteuerlichsten Werke, Balzac revolutionierte in La Comédie humaine die Literatur, Turner die Malerei. Wie der Kapitalismus, ist auch die Geistesgeschichte eine Kette von Krisen. Und Phasen des vorgeblichen Stillstands waren immer nur ein - nicht unproduktives - Innehalten angesichts einer zu Ende gehenden Flut von Innovationen: in der Kunstwelt, und eben auch in der Welt technologischer und ökonomischer Raserei.

SZ: Wir leben demnach in chaotischen, aber unrevolutionären Zeiten.

Boehmer: Der eingangs von mir zitierte Onfray sagt, es revolutioniert an allen Ecken und Enden, aber diese Revolution ist nicht mehr zentralisiert, monolithisch, sie ist stattdessen molekular und diffus. Ein Produkt der neuen Kommunikation: Globalisierung und Internet geben nur den Startschuss. Schauen Sie, wie lächerlich eingerostete kulturelle Institutionen heute wirken: Päpste, Pop-Helden, Fernsehanstalten, Gremien, Würdenträger aller Art . . .

SZ: Welche zum Beispiel?

Boehmer: Nehmen Sie das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland. Wie viel Gebühren kassieren diese Apparate?

SZ: Fast acht Milliarden Euro im Jahr.

Boehmer: Unglaublich. Damit subventionieren die Deutschen - brav wie Schafe - Schlagersendungen, drittklassige Boxkämpfe, mediokre Serien. Und doch sind dieselben Apparate mit Kraft dabei, sich selbst überflüssig zu machen. Sie werden ihre Gebühren irgendwann nicht mehr mit dem hehren Anspruch, den sie in Wirklichkeit ja auch gar nicht haben, begründen können. Kriegt denn die Süddeutsche Gebühren?

SZ: Wollen Sie nicht zurück nach Deutschland und in die Politik gehen?

Boehmer: Ich habe mir hier in Amsterdam im Fernsehen den Auftritt dieses schlimmen Burschen beim, wie heißt es . . .

SZ: Reich-Ranicki? Beim Fernsehpreis?

Boehmer: Ja.

SZ: So was schauen Sie?

Boehmer: Ich liebe diesen Quatsch. Reich-Ranicki ist doch die personifizierte Implosion des ganzen Systems: ein brüllender Biedermeier in grellem Gelände. Das versteinerte Top-Produkt der deutschen Unterhaltungsindustrie. Er hat sich doch von dieser Industrie immer verklären lassen - bis eben zu dem Moment, wo er sie nicht mehr bedienen konnte. Deshalb spuckt er nun allen, die sich da erheben und ihn beklatschen wollen, ins Gesicht. Ein lächerlicher Clown. Lache, Bajazzo!

SZ: Aber Fernsehen wie Industrie verklären ihn immer noch.

Boehmer: Ein solch heiliger Ernst gedeiht aber nur in Apparaten, wie es sie nicht mehr lange geben wird. Das ist Gekakel im Hühnerstall. Reich-Ranicki ist insofern der Held im letzten Akt seiner eigenen Schmierenkomödie, sein eigener Fetisch. Schauen Sie, wie er sich in diesem letzten Akt nochmal der Reklamewirtschaft an den Hals wirft, zwischen kaputte Fernseher setzt und sich selbst als klugen Kopf bezeichnet. Welch ein Fetischismus! Doller als hier im Amsterdamer Nachtleben. Mit dem gleichen Recht könnte ich Sie und mich für eine Travestie der Nibelungenfestspiele in Worms anmelden. . .

SZ: ... dazu passt der Gedanke aus Thomas Bernhards Kindheitserinnerungen, dass man die Möglichkeit des Selbstmords bei jeder Entscheidung mitdenken sollte.

Boehmer: Denken Sie nur an diese Freiheit! Ist es nicht wunderbar? Das ist wunderbar.

SZ: Und wer wird nun das Chaos, von dem wir sprachen, überleben?

Boehmer: Die, die vieles können und nicht nur eines. Im Moment betet der eine, der Zweite denkt, der Dritte schaut, der Vierte schreibt, der Fünfte weint, der Sechste masturbiert. Eine Welt aus Fachidiotie.

SZ: Und wie wollen Sie überleben? Als "schöne Stelle" im Klassikradio?

Boehmer: Das ist mir deutlich zu nekrophil.

SZ: Dann lieber gar nicht, oder?

Boehmer: Sie sprachen eben vom Selbstmord.

SZ: Der arme Schumann hat es ja mit dem Rhein versucht . . . Am Rosenmontag.

Boehmer: Aber es hat nicht hingehauen. Ich würde aber, wenn sie mich im Klassikradio spielen, einen zweiten Versuch wagen.

Konrad Boehmer, geb. in Berlin 1941, ist einer der wichtigsten Komponisten für Neue Musik. Von 1961-1963 arbeitete er unter anderem mit Karlheinz Stockhausen im Kölner Studio für Elektronische Musik des WDR. 1966 zog Boehmer in die Niederlande. Seit 1972 ist er Professor für Musikgeschichte und Theorie der Neuen Musik an der Königlichen Musikhochschule Den Haag - und Gastdozent für Komposition in Lateinamerika, den USA, in Skandinavien, Frankreich und Deutschland. Sein in Paris uraufgeführtes Musiktheater "Doktor Faustus" erhielt 1983 den "Rolf Liebermann Preis". 2007 ernannte ihn Königin Beatrix zum "Offizier im Orden Oranje-Nassau". Mit Albert Ostermaier hat er eben die Arbeit an einem elektronischen Musiktheater - "Sensor" - abgeschlossen. Boehmer lebt in Amsterdam und Südfrankreich.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: