Im Gespräch: Hilary Swank:Abschied vom Ego

Die zweifache Oscarpreisträgerin Hilary Swank spielt in "Betty Anne Waters" einmal mehr eine extreme Rolle. Ein Gespräch über Heldinnen, verstörende Figuren und falsche Führerscheine.

Patrick Roth

SZ: Betty Anne Waters - die reale Person, die Sie im Film spielen - verbrachte sechzehn Jahre mit dem Versuch, die Unschuld ihres Bruders Kenny zu beweisen. Das geht weit über Geschwisterliebe hinaus.

Kinostarts - 'Betty Anne Waters'

In "Betty Anne Winters" spielt die zweifache Oscarpreisträgerin Hilary Swank eine Mutter, die, um ihren unschuldig verurteilten Bruder aus dem Gefängnis zu holen, ein Jurastudium auf sich nimmt.

(Foto: dpa)

Hilary Swank: Allerdings. Man muss sich vorstellen: Eine einfache Ehefrau, Mutter zweier Kinder, begann ein Jurastudium einzig aus dem Grund, ihren lebenslänglich inhaftieren Bruder freizubekommen. Eigentlich unvorstellbar, was so ein Schicksal an Demut und Selbstlosigkeit erfordert. Ich habe auch einen Bruder, acht Jahre älter als ich - wir kommen beide, wie Betty Anne, aus ärmlichen Verhältnissen. Ich bin in einem Wohnwagenpark aufgewachsen, dachte mir als Kind natürlich nichts dabei. Aber mir fiel auf, dass mich die Eltern der anderen Kinder, mit denen ich spielte, immer wegschickten oder ihre Kinder ins Haus riefen, wenn sie mich draußen sahen. In deren Augen waren wir Habenichtse, wurden jedenfalls so behandelt.

Wie kann unter solchen Umständen das Selbstvertrauen in einem Kind - ich war sechs damals - überhaupt wachsen? Als ich das Drehbuch für diesen Film las, fragte ich mich natürlich: Hätte ich selbst so mitfühlen und lieben können wie Betty Anne? Hätte ich die Kraft gehabt, dieses Opfer für meinen Bruder auf mich zu nehmen? Ich weiß es nicht. Ich kann es nur hoffen. Betty Anne ist meine Heldin.

SZ: Ein Jurastudium in den USA kostet durchschnittlich 40000 Dollar im Jahr. Wie konnte Betty Anne das eigentlich finanzieren?

Swank: Sie erhielt jedenfalls keinerlei Stipendien. Sie hat Schulden gemacht, hat wahrscheinlich immer noch große Schulden. Ich weiß nichts Genaues darüber. Sollte es aber wissen. Spezifisches Detailwissen verändert die Arbeit an einer Rolle. Und dass ich darauf jetzt keine Antwort habe... - ist ein Fehler, der mir eigentlich nicht unterlaufen sollte.

SZ: Sie lieben die extremen Rollen - und sind dafür mit zwei Oscars belohnt worden, 1999 für "Boys Don't Cry" und 2004 für "Million Dollar Baby". Sie machen es sich nicht leicht...

Swank: Ich hasse Rollen, in denen ich an der Seite irgendeines Mannes lächelnd ins Schlafzimmer geführt werde. Wie langweilig! Ich suche nach Rollen, die mich verstören. Rollen, in denen die Person sich verändert, völlig verwandelt - nicht nur äußerlich, sondern innerlich: in ihrem Fühlen, Verstehen und Hoffen. Mein Beruf - wie ich ihn sehe - ähnelt darin durchaus einem fortgeschrittenen Psychologiestudium. Natürlich hat das mit der Sechsjährigen zu tun, die in einem Wohnwagenpark bei Bellingham, Washington, aufwuchs und von allen zur Außenseiterin gemacht wurde. Vielleicht ziehen mich Außenseiter-Rollen deshalb so an. Aber ich verwende hier immer wieder das falsche Wort: Ich spiele keine Rolle, ich spiele eine Person.

SZ: Welche Konsequenzen hat das für Sie - ganz praktisch, meine ich jetzt?

Swank: Das betrifft die Vorbereitung, die Vorarbeit, die ich als Schauspielerin leisten muss. Personen - Menschen - sind immer und in allen Details spezifisch. Wenn ein Film nicht funktioniert, geschieht das meist, weil er nicht spezifisch genug porträtiert oder dramatisiert, sondern uns Schauspieler in Rollen zeigt und nicht als Personen. Menschen definieren sich vor allem über ihre Besonderheiten. Die sind es, die eine Szene lebendig und authentisch machen.

SZ: Gehen Sie ruhig ins Detail.

Swank: Wir kennen unsere Eigenheiten. Jeder weiß, was für Schuhe er bevorzugt, welchen Haarschnitt, was wir gerne essen, was unsere Lieblingsfarbe ist, welche Farbe wir hassen, welches Lied wir mögen und welche Lieder wir nicht ausstehen können. Wir wissen auch, welche Geschehnisse aus unserer Kindheit bis in die Gegenwart hineinragen und das Gespräch beeinflussen, das wir gerade führen. All das vermerke ich in meinem persönlichen Drehbuch. Nichts davon steht im Skript. Ich liebe es, eine Person, die ich spielen soll, bis aufs tiefste Level hinab zu verstehen. Wenn Sie mich auf dem Set besuchen und meine Handtasche öffnen würden, fänden sie als Erstes meinen Führerschein - den ich mir von der Requisite für jeden neuen Film anfertigen lasse - , mit Foto und Adresse der Person, die ich spiele. Und Bilder "meiner" Familie.

SZ: Aber wie arbeiten Sie dieses spezifische Wissen dann praktisch in eine Szene ein?

Swank: Sagen wir, die Szene spielt in einem Café . Im Hintergrund höre ich eine Musik - die mich stört, irgendein Lied, das ich nicht ausstehen kann. Das ist etwas, was ich mir für diese Person vorher notiert hatte. Ich kann es in einer Reaktion verwenden: Ich bin beim Hören ungeduldig geworden, werde vielleicht unwirsch, wenn die Bedienung endlich kommt, meine Bestellung aufnimmt. Oder umgekehrt: ich mag das Lied, hey! - ich stehe auf und fange vielleicht an, danach zu tanzen. Diesen Spielraum hab' ich mir erst durch die Notizen erschlossen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite über die Problematik des Wieder-Landens nach dem "Cut".

Der ausbleibende "Cut"

SZ: Kürzlich sah ich ein Interview mit Monica Vitti, der Antonioni-Schauspielerin. Sie beschrieb eine Phase der Arbeit vor der Kamera: den Moment des Übergangs vom Szenenspiel zurück in die Wirklichkeit. Also von jenem Moment, wenn der Regisseur drehbuchgemäß "Cut!" rufen sollte. Vitti sagte, Antonioni habe das oft unterlassen und die Unsicherheit, die in ihr darüber entstanden sei, bewusst provoziert und für den Film genutzt. Kennen Sie solche Momente auch aus Ihrer Erfahrung?

Swank: Ja, ich kenne diese Augenblicke, die Vitti beschreibt. Sie meint diese Zwischenphase des Wieder-Landens, des Wieder-Erde-Berührens, wenn die Szene zu Ende ist. Die ist oft problematisch. Tony Goldwyn hat uns in manchen Szenen größte Freiheit gelassen. Es waren die Szenen am Tisch im Gefängnis, als ich mich bei Sam wegen seines Selbstmordversuchs beschwere. Da ließ uns Tony gleichzeitig von zwei gegenüber positionierten Kameras aus filmen.

Alles floss nun, war in einer Gleichzeitigkeit gehalten, war real. Wir konnten improvisieren so viel wir wollten. Als die Szene zu Ende war, rief Tony nicht "Cut", sondern ließ die Kameras weiterlaufen, uns von neuem beginnen. Sechsmal hintereinander, ohne Pause, ohne diese Wirklichkeit, die zwischen uns bestand, zu verlassen. Wir improvisierten also und konzentrierten uns hundertprozentig aufeinander. Das heißt, ich hatte manchmal Tränen in den Augen - obwohl die Anweisung im Drehbuch "sie lacht" lautete - , weil ich sofort reagieren konnte auf das, was durch Sams Spiel unterschwellig zum Ausdruck gekommen war. Und umgekehrt. Alles war unberechenbar geworden, alles war echt.

Als Tony schließlich "Cut!" rief, erschien mir das wie das Ende einer großartigen Meditation - die völlig unwirkliche Landung auf fremdem Boden, in einer Realität, die mir zunächst fremd erschien. Dieses vollständige Aufgehen im Spiel des anderen setzt natürlich auch eine Chemie zwischen zwei Schauspielern voraus. Ich bezweifle mal, dass ein Regisseur so etwas von vornherein plant, und nehme an, dass er spontan entscheidet. Vielleicht wird auch er festgehalten von dem, was er am Ende einer Szene zu sehen bekommen hat. Seine Sprachlosigkeit oder Anspannung überträgt er dann verlängernd auf uns, die Schauspieler. Das wäre doch legitim.

SZ: Haben Sie sich mit Sam Rockwell über diese Art zu arbeiten unterhalten?

Swank: Er erzählte mir von einer Szene aus Snow Angels. Der Regisseur ließ ihn die härtesten Momente im Film - eine Selbstmordszene - nachspielen. Sam saß also da, hielt den Revolverlauf in seinen Mund und wartete darauf, dass sein Regisseur "Cut!" ruft. Und hört nichts. Er denkt: Werde ich verrückt? Warum höre ich nichts? Dann denkt er: Der Kerl will, dass ich abdrücke! Aber ich drücke nicht ab! Wer wird hier verrückt? Der oder ich? - Sam hat sich abgequält, hat durchgehalten. Bis der Regisseur auf ihn zukam und ihn umarmte. Sam hat danach lange gebraucht, sich wieder zu beruhigen. Aber auch er behauptet, einer der besten Momente im Film sei durch das ausgebliebene "Cut" entstanden.

SZ: Was sagt Ihnen das?

Swank: Die Entstehung solcher Momente setzt immer ein totales Vertrauen zum Regisseur voraus. Es ist ein Abschied vom Ego, wenn ich mit dem Filmen beginne. In der Szene selbst muss es mir egal sein, wie ich aussehe, was die Kritiker denken. Es muss mir egal sein, ob ich beim Spielen Mist baue. Im Gegenteil: Wenn mir das nicht immer wieder geschieht, weiß ich, dass ich die Person nicht vollständig verkörpere. Aber ich brauche das ungeheuere Talent eines Kollegen wie Sam oder eines Regisseurs wie Tony, die mich auffangen, wenn ich falle, und mich letztlich bis ans Ziel tragen.

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