Im Gespräch: Emily Watson:Vom Hunger nach Aufmerksamkeit

"Niemand denkt mehr daran, dass es überhaupt eine Option wäre, ein Leben ohne Applaus zu führen": Schauspielerin Emily Watson spricht über Unersättlichket und ihren neuen Film "Mitten im Sturm".

Kristen Rübesamen

Eine Hotelloby in Essen; Senioren sitzen hier schon vormittags beim Pils. Niemand erkennt die Frau, die ohne Sonnenbrille aus dem Taxi steigt. und die sich nicht die geringste Mühe gibt, die Atmosphäre durch ein Hollywood-Lächeln zu erwärmen. Warum auch, Emily Watson kommt von einer Insel, auf der man die Lippen zusammenpresst, und spielt in Filmen mit, in denen es gerne mal dauerregnet. Gottlob hat die Interviewerin ihr eine Tasse Tee bestellt. "Earl Grey? Phantastisch!"

Filmpremiere Mitten im Sturm

Emily Watson in der Lichtburg in Essen auf dem Roten Teppich zur Deutschlandpremiere des Films "Mitten im Sturm".

(Foto: dapd)

Lesen Sie hier Auszüge aus einem Interview der SZ am Wochenende:

SZ: In Ihrem neuen Film "Mitten im Sturm" spielen Sie die russische Literaturprofessorin Eugenia Ginzburg. Die wie Millionen andere von Stalin unter dem Scheinvorwurf des politischen Verrats für zehn Jahre in den Gulag gesperrt wurde. Wie hat sie den Hunger erlebt?

Emily Watson: Die Regel für die inhaftierten Frauen lautete: Wer den Korb nur zu Hälfte mit Holz, das sie dort schlagen mussten, füllt, bekommt nur die Hälfte der sowieso schon kümmerlichen Ration. Man musste also alles nur Mögliche tun, um möglichst stark zu bleiben. Die Todesrate in den Lagern wird je nach Statistik auf bis zu fünfzig Prozent geschätzt.

Als Intellektuelle stand sie in der Lager-Hierarchie wahrscheinlich weit unten?

Ja. Andererseits hat man herausgefunden, dass sogenannte Intellektuelle etwas bessere Überlebenschancen hatten, weil sie geistige Ressourcen hatten. Bevor Eugenia ins Lager kam, musste sie in eine lange Isolationshaft. Dort erinnerte sie sich plötzlich an Hunderte von Versen, die irgendwo in ihrem Unterbewusstsein gespeichert waren. Sie hatte sie nie auswendig gelernt, sie waren einfach da.

Also Verse statt Brot?

Zumindest halfen sie ihr moralisch, die Isolation und den Hunger zu überleben.

Haben Sie sich gefragt, ob Sie Eugenias Willenskraft besessen hätten, die sich weigerte, etwas zu gestehen, was sie nie getan hatte?

Ja, aber, oh Gott, ich habe keine Antwort gefunden. Sie war sehr ungewöhnlich. Ich denke aber, man darf Leute nicht danach beurteilen, wie sie sich unter Folter verhalten. Entweder ist man dafür geschaffen standzuhalten oder nicht. Wenn man zu mir sagen würde: Du nennst uns Namen, oder wir bringen deine Kinder um - ich würde ziemlich sicher zur Verräterin.

Eugenia wurde es nicht. Sie nahm dafür zehn Jahre Sibirien auf sich und wäre fast dabei gestorben.

Aber denken Sie daran, was gerade in Ägypten, Syrien, Libyen passiert. Diese Menschen sind dem schlimmsten Druck ausgesetzt, verschwinden, werden gefoltert und machen trotzdem weiter, weil ihr Hunger nach Freiheit alle anderen Qualen in den Hintergrund stellt. Eugenia rechnete fest damit, exekutiert zu werden wie viele ihrer Freunde.

In einer der bewegendsten Szenen im Film begräbt Eugenia ein Bonbonpapier .

Das haben wir für den Film erfunden, weil es eine starke poetische Wahrheit in sich trägt. An dem Tag, als sie den mit Schrecken erwarteten Anruf erhält, sich bei den Behörden zu melden, schreit sie ihren ältesten Sohn an, der gerade Süßigkeiten isst; und sie nimmt sie ihm weg. Das ist, wie sich herausstellt, das letzte Mal, dass sie mit ihm spricht. Als sie dann im Lager erfährt, dass er verhungert ist, begräbt sie sein Bonbonpapier im Schnee vor den Baracken; denn es war das Einzige, was sie von ihm noch hatte.

Was haben Sie bei der Beschäftigung mit Stalins Zwangslagern über die menschliche Natur erfahren?

Wenn sich Menschen mit ihrer Sterblichkeit auseinandersetzen müssen, bringt es ihren wahren Charakter ans Tageslicht. Man findet Verderbtheit, das, was sie einander antun können, ebenso wie Beispiele von herausragender Großzügigkeit, Nächstenliebe und Mut. Die Schwesterlichkeit, die Eugenia mit einigen Frauen im Lager verband, ist ein Beleg dafür, dass Frauen oft besser mit ihrem Schicksal zurechtkommen als Männer.

Woran liegt das?

Weil es bei ihnen genetisch angelegt ist: Verantwortung zu tragen, nicht aufzugeben, nicht aufgeben zu dürfen.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie Emily Watson über ein Leben ohne Applaus denkt.

Politische Überfütterung

Hunger wurde unter Stalin nicht nur als Foltermethode eingesetzt, sondern auch politisch instrumentalisiert.

Und wie. Unter Stalin wurde ein Großteil des Bruttosozialprodukts in den Gulags produziert, von Menschen, die man durch Nahrungsentzug dazu brachte, die Bilanz zu verbessern.

In der Welt von heute sind eine Milliarde Menschen übergewichtig. Und eine Milliarde hungert. Hat die westliche Überfütterung auch eine politische Funktion?

Als Stabilisierung einer Konsumgesellschaft, die nichts anderes kennt als Wachstum? Vielleicht. Ich erinnere mich gerade an eine Presseveranstaltung für ,Die Asche meiner Mutter' zusammen mit Frank McCourt, dem Autor. Es gab ein fürstliches Essen, ein Kellner bot uns sechs verschiedene Brotsorten an. ,Diese ist glutenfrei, diese hat keine Nüsse . . .' und so weiter. Und Frank sagte: ,Emily, als ich ein Kind war - das Brot hätte aus Pferdeäpfeln sein können, wir hätten es gegessen.' Und heutzutage verweigern Menschen Brot, weil irgendetwas drin ist, dass sie gerade nicht vertragen.

Betrifft Sie, als Mitglied einer Bohème, ein Thema wie Übersättigung überhaupt?

Es betrifft mich als Mensch und als Mutter. Ich versuche meinen Kindern den Wert einer Sache beizubringen, egal, ob es sich um Brot oder menschliche Beziehungen handelt. Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ist, aber in London herrscht in der Mittelschicht eine geradezu fanatische Panik davor, dass die Kinder nicht zu den Besten gehören könnten. Wenn bereits Kinder durch Facebook lernen, die Welt lediglich als Werbefläche für ihr Image zu begreifen, gibt es keinen Raum mehr für Leute, die bescheiden sind, vielleicht im Stillen eine große Sache aufziehen, auch mal etwas in Frage stellen.

Weil der Hunger nach Anerkennung immer weiter wächst . . .

. . . und niemand denkt mehr daran, dass es überhaupt eine Option wäre, ein Leben ohne Applaus zu führen. Bei uns dreht sich alles derart um das Individuum, dass wir das individuell erlebte Gefühl von Unersättlichkeit nicht als etwas Politisches wahrnehmen. Weil der Hunger nach Aufmerksamkeit so groß ist.

Der ist bei Schauspielern doch längst systemimmanent, oder?

Er ist verbreitet. Aber je älter ich werde, desto gleichgültiger wird es mir, was andere sagen, Theater, Kunst, Lyrik - es ist mir so was von egal. Früher war ich schrecklich nervös, wenn ich zu einer Eröffnung in einer Galerie ging, und hoffte, die richtige Meinung zu haben. Heute könnte es mir gar nicht gleichgültiger sein. Nur was meine eigene Arbeit betrifft und die Art, wie sie aufgenommen wird, bin ich leider immer noch nervös.

Fragen Sie sich manchmal im Supermarkt, warum es eigentlich keine kleinen Einkaufswägen gibt?

Weil Essen ein Schutz ist gegen Unglück und Leid.

Dann wären alle Dünnen unglücklich.

Was sie natürlich nicht sind. Aber Essen fungiert nun mal als jederzeit zugängliche Belohnung mit sofortiger Wirkung.

Ein Teller Grießbrei . . .

Bei mir ist es die Schokolade. Alkohol haben wir zu Hause ganz aufgegeben, seit ich ihn nicht mehr vertrage. Und sowieso jeden Tag um sechs aufstehen muss. Aber Trostessen ist etwas Wunderbares. Der Tisch ist das Zentrum einer Familie. Dort wird gefeiert, alles besprochen, dazu wird gegessen. In England besitzen viele Familien überhaupt keinen Esstisch mehr. Sie essen vor dem Fernseher. TV-Dinner. Wahnsinn! Machen wir anders.

Emily Watson wurde am 14. Januar 1967 im Stadtteil Islington in London in eine kultivierte Familie hineingeboren. Ihr Vater war Architekt, die Mutter unterrichtete englische Literatur an der renommierten St. James's School, die auch Emily später besuchte. Danach studierte sie Englisch an der Universität in Bristol und wurde 1992 Mitglied der Royal Shakespeare Company. Der großen Öffentlichkeit völlig unbekannt, sprang die Theaterschauspielerin 1997 für Helena Bonham Carter in Lars von Triers "Breaking the Waves" ein und bekam für die Rolle der Bess McNeill eine Oscar-Nominierung. 1999 wurde sie erneut nominiert für "Hilary and Jackie", einen Film, für den sie in drei Monaten lernte, Cello zu spielen. Überhäuft mit Preisen in Europa wie Amerika lehnt sie Angebote ab, wenn sie dafür zu lange Zeit von Zuhause weg sein muss. Sie lebt mit dem Schauspieler Jack Waters und zwei gemeinsamen Kindern in London.

Lesen Sie das gesamte Interviw mit Emily Watson in der SZ am Wochenende vom 14./15. Mai 2011.

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