Im Gespräch: Dogan Akhanli:"Sie haben meinen Vater getötet"

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Er fuhr in die Türkei, um seinen sterbenden Vater zu besuchen - doch wegen eines angeblichen Raubmords sperrte man ihn für vier Monate ins Gefängnis: Dogan Akhanli, deutsch-türkischer Schriftsteller, spricht über seine Haftzeit in Istanbul.

Kai Strittmatter

Der 1957 geborene Schriftsteller Dogan Akhanli war am 10. August beim Versuch der Einreise in die Türkei festgenommen worden, fast zwanzig Jahre nach seiner Flucht aus dem Land, in dem er als linker Aktivist Folter und Haft erlebt hatte. Akhanli ist längst deutscher Staatsbürger, er trat die Reise an, um seinen am Schwarzen Meer lebenden kranken Vater noch einmal zu sehen. Der Staatsanwalt warf ihm unter anderem einen Raubmord von 1989 vor - obwohl alle Zeugen Akhanli längst entlastet hatten. Am Donnerstag wurde Akhanli nach vier Monaten Haft auf freien Fuß gesetzt. Seinen Vater wird Akhanli nicht mehr sehen: Er ist vor zwei Wochen gestorben. Das Interview findet statt am Tag nach seiner Entlassung: Ein leiser, freundlicher, konzentrierter Mann, der sich soeben entschlossen hat, schnell ins Dorf des verstorbenen Vaters weiterzureisen.

Seit Donnerstag ist er wieder frei: Der Schriftsteller Dogan Akhanli, hier vor einem Gerichtsgebäude in Istanbul am 8. Dezember. (Foto: dpa)

SZ: Wie geht es Ihnen?

Dogan Akhanli: Ich bin erschöpft. Ich sehe mich aber nicht nur als Opfer. Die türkische Justiz hat mich auch zum Zeugen gemacht in diesen vier Monaten. Ich habe viel Unrecht gesehen, junge Menschen, die nur deshalb im Gefängnis saßen, weil sie Kurden sind, mit haltlosen Anklagen. Es ist keine Ausnahme, was ich erlebt habe. Ich bin dankbar, dass die deutsche Öffentlichkeit und die deutschen Behörden mich nicht alleingelassen haben. Das hat mir Kraft und Freude gegeben, die ich bis in die Knochen gespürt habe. Das Gefühl, super, dass ich deutscher Bürger bin, dass sie mich gerettet haben. Ich hatte zuerst auch Angst: Ob mich die Antiterrorabteilung wieder foltern würde? Sie waren dann sehr höflich, sehr korrekt.

SZ: Das hat es Ihnen aber nicht leichter gemacht .

Akhanli: Stellen Sie sich vor: Sie wissen nicht, warum man Sie festnimmt. Man warf mir einen Raubmord vor, den ich nicht begangen habe, und man machte mich zum Kopf einer Terrorgruppe. Der Staatsanwalt hat all die Monate kein einziges Mal mit mir geredet. Und dann lese ich, dass ich in der Terrorgruppe angeblich den Codenamen Dogan K. gehabt haben soll. Dogan K.! Wie Josef K. in Kafkas Prozess. Meine Verteidiger hatten lange vor dem Prozess meine Unschuld bewiesen. Wenn man trotzdem mit der Aussicht bedroht wird, lebenslang hinter Gitter gesteckt zu werden, dann fühlt man sich wie in der Hölle.

SZ: Was hat die Justiz geritten?

Akhanli: Ich weiß es nicht. Ich bin ja nicht nur Schriftsteller, ich bin auch Menschenrechtler. Ich habe für die Aussöhnung von Türken, Kurden und Armeniern gearbeitet. Vielleicht auch, weil ich nach meiner Flucht bis heute nie gesagt habe: Tut mir leid, ich habe Fehler gemacht damals, im Widerstand gegen das Militärregime. Jetzt habe ich ohnehin andere Ideen für eine bessere Türkei. Ich finde, wir sollten nicht mehr das Unrecht der Vergangenheit verdrängen. Ich bin ja ein Stück Deutscher geworden. Nicht nur wegen meines Ausweises. Ich schätze es, wie Deutschland trotz der ungeheuerlichen Verbrechen in seiner Vergangenheit gezeigt hat, dass man daraus lernen und etwas anderes machen kann. Die Türkei kann von Deutschland lernen.

SZ: Wie stehen Sie heute zur Türkei?

Akhanli: Wir hassen uns und wir lieben uns.

SZ: Warum stemmt sich das Land noch so sehr gegen das Erinnern?

Akhanli: Schuld ist das Projekt, das am Anfang dieser Republik stand: Eine Nation, eine Rasse, eine Religion. Dieser Mythos lässt anderen Farben keinen Raum. Ausgerechnet in einer Vielvölkernation. Dieses Land wurde auf Verbrechen gegründet. Der Staat hat eigene Bürger getötet, um das Nationalstaatsprojekt zu verwirklichen: Im Osten wurden die Armenier vernichtet und im Westen die Griechen vertrieben.

SZ: Premier Tayyip Erdogan hat erstmals die Massaker an Christen und Alewiten beim Namen genannt.

Akhanli: Das war super, was Erdogan getan hat. Von den Linken kommt da ja nichts in diesem Land. Aber Erdogan hat seine blinden Flecken: Wie er über Alewiten, Armenier und Juden redet, ist oft sehr problematisch.

SZ: Was ist das für eine Türkei, die Sie hier vorfinden?

Akhanli: Ein Land großer Widersprüche. Ich hätte es nicht so komplex erwartet. Die Polarisierung ist unglaublich. Auch unter den Intellektuellen: Sie kennen nur Feind und Freund. Im Gefängnis durfte ich ja Zeitung lesen. Die Ideologie überdeckt hier noch immer jede inhaltliche Diskussion. Wie schwierig muss es sein, in einem solchen Land mit dem anderen an einem Tisch zu sitzen und einfach zuzuhören.

SZ: Sie haben vor Gericht nicht gesprochen, sondern eine Erklärung vorlesen lassen.

Akhanli: Ja, ich wollte schweigen und habe der Staatsanwaltschaft und dem Gericht die Gründe dafür schriftlich mitgeteilt: Es war ihre unerträgliche Arroganz und Ignoranz, die Art, wie sie ihre eigenen Gesetze mit Füßen treten. Aber diese Arroganz und Ignoranz geht über die Justiz hinaus, es ist ein gesellschaftliches Phänomen. Das große Osmanische Reich ist zu einer kleinen Republik geschrumpft, aber im Geist redet hier jeder Mensch wie ein Sultan. Der Intellektuelle wie der Staatsanwalt: Ein jeder schwingt sich auf zum Richter über den anderen.

SZ: Sie haben im Gefängnis einen Text über Ihre Festnahme geschrieben, der ist von großer Komik. War es wirklich so?

Akhanli: Es war die Hölle. Ich hatte von Anfang an vor, ein Buch über meine Reise zu schreiben. Es sollte ein lustiges, optimistisches Buch werden. Nichts Tragisches. Ein Buch, das zeigt: Es gibt Verletzungen, es gibt aber immer auch eine Versöhnung. Aber der Tod meines Vaters hat alles zerstört. Dieser Verlust ist nicht wiedergutzumachen. Er war ja ein symbolischer Charakter für mich: Ich wollte mich meinem Vaterland über meinen Vater nähern. Ihn besuchen, mit ihm eine gute Zeit verbringen und so den Kontakt zu meinem Land noch einmal knüpfen. Mein Gefühl war: Sie haben meinen Vater getötet. Dieser Prozess hat ihn getötet.

SZ: Wie haben Sie von seinem Tod erfahren?

Akhanli: Meine Anwälte wollten nicht, dass ich das in der Zeitung lese, also haben sie die Anstaltsleitung gebeten, mir an dem Tag keine Zeitungen zu geben. Aber ein Mitgefangener hat mir seine Zeitung über die Mauer geworfen. Da habe ich sein Foto gesehen auf Seite 3. Zuerst dachte ich: Das bin ich selbst. Dann sehe ich: Das ist mein Vater. Und ich denke: Warum? Machen meine Freunde nun Öffentlichkeitsarbeit mit meinem Vater? Dann erst habe ich gelesen, dass er tot ist. Da war diese Ohnmacht, diese Wut. Meine erste Reaktion war: Ich schreibe nie mehr ein Wort auf Türkisch. Aber ich bin doch türkischer Schriftsteller. Mein seelisches Exil habe ich durch die Heimat in der türkischen Sprache gemildert. (Dogan Akhanli beginnt zu weinen).

Das ist interessant: Ich weine, während ich Deutsch spreche. Ich konnte auf Türkisch nicht weinen.

SZ: Kann man so etwas verzeihen?

Akhanli: Die Verletzung ist tief. Meine Entlassung bedeutet für mich keine wirkliche Freilassung - es ist der Beginn eines erneuten seelischen Exils. Das ist doch Exil: Wenn man seine Muttersprache nicht mehr sprechen und nicht mehr hören will. Mich hat zwischendurch dieses Gefühl überwältigt: Ich will diese Sprache nicht mehr. Die Sprache, die dieser Staatsanwalt spricht, die gehört mir nicht. Das ist mir fremd, das hat mit mir nichts zu tun.

SZ: Ist Ihnen das Land nun fremder?

Akhanli: Ja leider. Aber ich leiste noch immer Widerstand. Das Ziel der Justiz war doch, mir zu signalisieren: Du gehörst nicht hierher. Sie haben das geschafft, vorläufig. Das ärgert mich. Deshalb fahre ich nun in mein Dorf, besuche den Friedhof, will Erinnerungen lebendig machen, die Verstorbenen zu einem Teil meiner Zukunft machen. Ich lehne dieses Exil ab, in das sie mich verbannt haben. Ich kämpfe.

SZ: Was für ein Buch werden Sie denn nun über Ihre Reise schreiben?

Akhanli: Ich weiß noch nicht, da steckt so viel drin: Exil, Fremdheit, Zensur. Es ist aber auch die Geschichte dreier Väter geworden: Ein Vater ist ermordet worden, 1989 in seiner Wechselstube. Dann verliert der Angeklagte, also ich, seinen Vater während des Prozesses. Und schließlich bekommt meine Anwältin während der Verhandlung einen Anruf: Ihr Vater war soeben gestorben. Ich hatte schon im Gefängnis ein Buch begonnen, um mich aus der Zelle hinauszuschreiben. "Das Märchen von der Heimkehr". Es sollte ironisch, grotesk sein. Aber früh hat mich der Gedanke eingeholt: Vielleicht wartet mein Vater ja gar nicht. Ich hatte mit einem Mal große Angst. Nicht als Literat - als Sohn. Ich habe aufgehört zu schreiben. Und dann starb er.

SZ: Werden Sie wiederkehren?

Akhanli: Ich wünsche mir das. Ich habe so viel bezahlt für diese Heimkehr. In dem Dorf in Savsat verbrachte ich meine Kindheit, in Istanbul meine Jugend. Ich habe so viele tolle Erinnerungen. Als ich in Berlin vor ein paar Jahren Fatih Akins "Crossing the Bridge" sah, bin ich fast ohnmächtig geworden vor Sehnsucht. Wenn man einmal in Istanbul lebt, hat man das Gefühl, man kann nie wieder in einer anderen Stadt leben. Aber dann dachte ich in all meiner Enttäuschung: Das ist die hässlichste Stadt der Welt! Bis mich gestern wieder bei der Galatabrücke ein Bild aus meiner Jugend eingeholt hat - wie ich dort mit meinem Bruder spazieren ging. Plötzlich war Istanbul wieder da. Dieser Blick. Diese verführerische Haltung. Wie eine schöne Frau, die einmal guckt und sich dann wieder wegdreht. Und du weißt genau, dass du ihr lebenslang hinterherlaufen wirst. Das war ein toller Moment. Der allein ist den Kampf gegen das Exil wert.

Interview: Kai Strittmatter

© SZ vom 13.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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