Süddeutsche Zeitung

"Im Brand der Welten":Land und Werk

Michael Martens porträtiert den großen europäischen Erzähler und Patrioten Ivo Andrić. 1892 geboren, war er von den ersten Texten bis zu den letzten Resolutionen und Briefen ein Vorkämpfer und Verteidiger Jugoslawiens.

Von Karl-Markus Gauß

Wer nach 500 gelehrten und spannenden Seiten ans Ende dieses Buches über einen der größten europäischen Erzähler des zwanzigsten Jahrhunderts gelangt ist, würde sich womöglich am liebsten anmaßen, dem Nobelkomitee von 1961 eine Protestnote in die Ewigkeit hinterherzuschicken. Dessen Entscheidung, den Jugoslawen Ivo Andrić auszuzeichnen, mochte damals für mutig gelten und ist literarisch bis heute unanfechtbar geblieben. Die bisher unbekannten oder geheim gehaltenen politischen Schriften des Preisträgers jedoch, die der deutsche Journalist Michael Martens aufgefunden hat, werfen ein düsteres Licht auf Andrić.

Freilich geht es Martens, der sieben Jahre als Korrespondent der FAZ in Belgrad lebte und kürzlich in zwei Artikeln scharfes Geschütz gegen Handke auffuhr, in seiner Biografie eben nicht darum, Andrić nachträglich den literaturpolitischen Prozess zu machen. Vielmehr möchte er ein exemplarisches "Europäisches Leben" erkunden, wie es der Untertitel nennt, und das ist ihm hervorragend gelungen.

Der 1892 als Kind kroatischer Eltern in Bosnien geborene Ivo Andrić diente dem "Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen" zwei Jahrzehnte lang als hochrangiger Diplomat und betrachtete zeitlebens die Existenz eines unabhängigen jugoslawischen Staates als sein wichtigstes politisches Anliegen. Von den ersten Texten des Gymnasiasten bis zu den letzten Resolutionen und Briefen, die der Greis unterzeichnete, hat sich Andrić als leidenschaftlicher Vorkämpfer, Verfechter und Verteidiger eines solchen Staates behauptet.

Ob es sich dabei um eine von Anfang an autoritäre, zunehmend sogar faschistoide Monarchie handelte oder um eine sozialistische Volksrepublik, die zuerst stalinistisch regiert wurde und sich später weitreichend liberalisierte, änderte nichts an seiner Haltung: ob rechts oder links, demokratisch oder despotisch, die Existenz Jugoslawiens war für Andrić das Entscheidende. Dem Staat selbst, nicht seinen wechselnden Machthabern, wollte er ein aufopfernder Diener sein, und um die Ansprüche dieses Staates gegen seine äußeren und inneren Feinde zu verteidigen, war er bereit, mit dem Teufel zu paktieren.

Während die Nationalsozialisten ringsum Länder überfallen, möchte Andrić sein Land heraushalten, die Einheit Jugoslawiens sichern

In den späten Dreißigerjahren, als Jugoslawien unter den Druck Italiens und Deutschlands geriet, war Andrić der wichtigste Diplomat seines bedrohten Landes. Damals wälzt er in geheimen Memoranden den Plan, 150 000 Muslime als vermeintliche "Türken" aus dem Land vertreiben zu lassen. In einem Aide-Mémoire, das erst zwei Jahre nach seinem Tod in einem Archiv gefunden wurde, legte er 1939 dar, wann es angebracht wäre, den Nachbarstaat Albanien zu zerschlagen und wie er zwischen dem faschistischen Italien und Jugoslawien aufzuteilen sei.

Im März 1939 tritt Andrić als Gesandter in Berlin den wichtigsten Posten an, den er jemals innehatte. Während die Nationalsozialisten ringsum Länder überfallen und okkupieren, möchte Andrić nur eines: sein Land heraushalten, die Einheit Jugoslawiens sichern. Er verkehrt mit hochrangigen Nationalsozialisten, mit Göring verhandelte er darüber, was Jugoslawien tun müsse, damit es mit deutschen Waffen beliefert werde. Nach und nach wurde aus ihm, wie Martens nachweist, ein "wichtiger Fürsprecher der politischen Annäherung Jugoslawiens an das nationalsozialistische Deutschland".

Martens hütet sich jedoch davor, all das, was er in Archiven aufgestöbert hat, Andrić charakterlich anzulasten. Was Andrić selbst dachte, ist in den Tausenden Dokumenten und Denkschriften für den internen Gebrauch kaum auszumachen, der Privatmensch und Künstler verschwindet für viele Jahre fast völlig hinter dem Diplomaten. Der sah seinen Auftrag nicht darin, eigene Meinungen zu verfechten, sondern die Interessen seines Staates zu verteidigen, der zweifellos in der Gefahr stand, angegriffen, ja, ausgelöscht zu werden.

Zu den vielen ungünstigen Zeugnissen jugoslawischer Weggefährten, die Andrić als "unehrlich, zwielichtig, machiavellistisch", als kalten, übervorsichtigen Karrieristen beschrieben, wahrt Martens eine gewisse Distanz. Er deutet die Biografie des grandiosen Epikers im Blick auf die Zwänge, denen der Patriot Andrić zeitlebens, besonders im herannahenden Zweiten Weltkrieg ausgesetzt war.

Deutschland hat Jugoslawien 1941 bekanntlich doch überfallen. Das gesamte Diplomatische Corps Jugoslawiens wurde verhaftet und in einem Hotel am Bodensee interniert. Einzig Andrić bot der Außenminister von Ribbentrop die Ausreise ins Schweizer Exil an. Andrić war zu diesem Zeitpunkt ein wohlhabender Mann. Zu seinem Gehalt kamen beträchtliche Tantiemen seiner Bücher. Das Rätsel, wie er es geschafft hat, neben seiner beruflichen Tätigkeit, die ihn seit 1920 etwa nach Rom, Triest, Bukarest, Madrid, Brüssel, Marseille führte, erfolgreiche, vielfach übersetzte Prosasammlungen zu veröffentlichen, kann auch Martens nicht klären. Andrić verfügte 1941 jedenfalls über so viel Geld, dass er in der Schweiz über Jahre unbehelligt hätte leben können. Er entschied sich aber, mitten im Krieg in das besetzte Belgrad heimzukehren.

"Für Andrić beginnt im Juni 1941 eine wunderbare Zeit in einer schrecklichen Zeit."

Was danach geschieht, ist verstörend paradox. Während in seinem Land zwischen der Wehrmacht und den Partisanen ein an Grausamkeiten nicht zu überbietender Krieg wütet, bezieht Andrić im Zentrum Belgrads als Untermieter ein Zimmer, in dem er, völlig zurückgezogen, binnen drei Jahren drei monumentale Romane schreibt, in denen er die Dinge frei von politischem Kalkül und kulturellem Ressentiment zu halten weiß. Martens fasst es in den treffenden Satz: "Für Andrić beginnt im Juni 1941 eine wunderbare Zeit in einer schrecklichen Zeit." Als die Partisanen gesiegt haben, hat er "Die Brücke über die Drina", "Wesire und Konsuln" und "Das Fräulein" druckfertig vorliegen.

Die kommunistischen Paladine um den Marschall Tito lassen in den ersten, stalinistischen Jahren des neuen Jugoslawiens reihenweise Mitglieder ihrer eigenen Partei liquidieren, etwa nach den sogenannten Dachauer Prozessen, in denen die Überlebenden der Konzentrationslager als Verräter zum Tode verurteilt werden. Den Spitzendiplomaten der Monarchie jedoch, der Ehrengast bei Hitlers 50. Geburtstag war und es in Serbien 1940 noch mit den faschistischen Tschetniks hielt, setzt Tito bald in den Status eines Staatsdichters. Was folgt, ist der Weltruhm, der Nobelpreis, nach dessen Verleihung Andrić etwas Ungewöhnliches tut. Während andere Laureaten sich auf eine öffentliche Dauerpräsenz einstellen, zieht er, der so lange in Staatsdiensten stand, sich bald rigoros zurück.

Seine frühen wie seine späten Briefe verraten vor allem zweierlei, bedingungslose Staatstreue und persönliche Unzufriedenheit. Im Nachlass findet sich die Notiz: "In der ersten Lebenshälfte wünscht und tut der Mensch Dinge, deren er sich in der zweiten Hälfte schämen und von denen er sich lossagen wird, und die zweite vergeht in vergeblichen Versuchen, das zu korrigieren oder wenigstens zu vertuschen, was man in der ersten tat. Es bleiben nur Reue und Scham." Und ein literarisches Werk, das Reue und Scham überdauert.

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SZ vom 26.11.2019
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