Ilija Trojanow im Gespräch:"Die Macht muss immer das letzte Wort haben"

Ilija Trojanow über seinen Roman Macht und Widerstand

Trojanow ist der bulgarischen Geschichte eng verbunden, die er über ein halbes Jahrhundert hinweg nachschreibt.

(Foto: dpa)

Was geschieht mit einer Gesellschaft, die von einem Regime jahrzehntelang unterjocht wird? Ein Gespräch über Macht und Gewalt mit dem Autor Ilija Trojanow.

Von Volker Breidecker

Für seinen viel beachteten neuen Roman "Macht und Widerstand", erschienen im S. Fischer Verlag, ist Ilija Trojanow tief in die Labyrinthe und Abgründe der Archive seiner bulgarischen Heimat hinabgestiegen. Ein Gespräch am Stand der Süddeutschen Zeitung auf der Frankfurter Buchmesse.

Zu Beginn Ihres Buchs schildern Sie die Stille vor den Eingängen der Archive. Ist diese Stille, die vielerorts in Osteuropa noch immer in den Wartesälen auch von Bahnhöfe und anderen öffentlichen Gebäude spürbar ist, die Fortsetzung des einst erzwungenen Schweigens und der Verstummens vor der Gewalt?

Ja, die Stille und das Flüstern in öffentlichen Räumen stehen für eine Gewalt, die längst nicht überwunden, und für ein Schweigen, das noch immer unbewältigt ist. In all diesen Ländern wird weiter am Wesentlichen vorbeigesprochen. Und solange dieses Wesentliche unaussprechbar ist, hält das traumatisierende Fortwirken von Gewalt weiter an. Diese Gewalt wird unterschätzt, dabei hält sie jede Stelle des Lebens besetzt. Daraus ergibt sich die Frage: Wie schüttelt eine Gesellschaft die in sie hineingeprügelte Gewalt wieder ab? Wie kann sie sich davon befreien?

Auf der Buchmesse hatte ich ein Gespräch mit der indonesischen Autorin Laksmi Pamuntjak ("Alle Farben Rot", Ullstein Verlag, siehe SZ-Literaturbeilage), und wir haben beide festgestellt, dass die Parallelen immens sind: Die Art und Weise, wie die Gesellschaft versucht, mit traumatisierenden Erinnerungen an Gewalt umzugehen, unterscheidet sich in Ländern wie Bulgarien, Indonesien, Russland fast überhaupt nicht voneinander. Oder nehmen Sie Argentinien, Guatemala, Kambodscha ...

Wie verhalten sich - das Grundproblem wohl auch Ihres Romans - Zeit und Erinnerung zueinander? An einer Stelle heißt es: "Beim Verhör verwandelt sich Schmerz in Zeit. In der Zelle wandelt sich Zeit in Erinnerung."

Der Kampf um Erinnerung ist das Thema. Die Zeit hingegen läuft davon. Wenn wir über Herrschaft reden, müssen wir auch von der Herrschaft über die Zeit reden. Im Roman fängt es damit an, dass Menschen verurteilt wurden, zu 15 oder 20 Jahren Haft. Diese Zeit aber ist für sie keine objektivierbare Größe mehr, sondern etwas, das sich immer weiter ausdehnt, vor allem unter Isolationshaft, der schlimmsten Form der Bestrafung. Man stelle sich nur einmal vor, man ist wochenlang in einem Verlies eingesperrt, ohne Licht, ohne eine menschliche Begegnung, und kann - um nicht verrückt zu werden - nichts anderes tun, als in sich hineinzuhorchen. Das ist die elliptische Fortsetzung der Folter geradezu ins Unendliche.

Auch als Schriftsteller muss ich mich fragen, wie kann ich mit der Kunst Zeit einfangen - Zeit, wie sie in den Archiven dokumentiert ist. Da aber findet die staatliche Umsetzung dieses Gedankens statt, und zwar so, dass in den unendlichen Labyrinthen der Archive die Zeit eingefroren, zum Monolith geworden ist. In allen Staaten mit einer repressiven Vergangenheit werden die Geheimnisse verschlossen und verriegelt. In den Katakomben, in den Kellern der Macht ist die Zeit festgefroren, bis sie irgendwann als einziger Ausdruck einer Gegenwart zurückbleiben wird, deren Teilnehmer längst verstorben sind.

"Einer Tat bezichtigt, die nicht stattgefunden hat"

Sind die Fiktionen und Phantasmagorien der Macht und ihrer Geheimdienste literarisch überhaupt noch einholbar?

Tatsächlich müssen wir uns fragen: Ist das noch dokumentarisch, was wir in den Archiven finden, und was heißt da überhaupt noch "dokumentarisch"? Im Laufe der Recherche bin ich an irgendeinem Punkt zu der Erkenntnis gelangt, dass die Geheimdienste ähnlich wie auch ich arbeiten.

Die Hauptfigur meines Romans wird einer Tat bezichtigt, die er nicht nur nicht begangen, die vielmehr überhaupt nicht einmal stattgefunden hat. Aber gestehen soll er sie, und um sein Geständnis und die Preisgabe der Namen vermeintlicher Mittäter zu erzwingen, dazu wird der Mann gefoltert. So kommt es zu einer merkwürdigen Quadratur des Kreises, die im Grunde auch für literarische Fiktionen gilt. Und in jahrelanger Beschäftigung mit Staatssicherheitsdiensten, habe ich irgendwann begriffen, das ist ein einziger und gewaltiger maskenhafter Roman, woran diese Leute arbeiten, indem sie kraft ihrer absurden Vorstellungen der historischen Realität eine phantastische Konstruktion überstülpen.

Behält das Archiv immer das letzte Wort?

Die Macht muss immer das letzte Wort haben - es sei denn, wir legen Widerspruch ein. Der Macht geht es dabei nicht einmal um das Konkrete, wie etwa darum, Menschen der vermeintlichen Verbrechen zu überführen. Nein, es geht ihr vielmehr darum, die Vorstellung, dass es so etwas wie Wahrheit überhaupt geben könnte, im Sumpf der Lügen, Denunziationen und Manipulation zu zertrümmern und als erstrebenswertes Ideal aus der Gesellschaft zu verbannen. Aber da gibt es auch Individuen, die dickköpfig genug sind, sich dagegen zu stellen und die auf dem Ideal beharren. Interessanterweise, und das war eine der Grunderkenntnisse, die ich bei meinen Recherche gewonnen habe, ist die Macht solchen Menschen gegenüber im Grunde ohnmächtig, weil sie ihr in ihrer ganzen Haltung, die sie einnehmen, allen Lügen und Manipulationen widersprechen.

Überraschenderweise versicherten mir fast alle ehemaligen politischen Häftlinge, dass sie sich im Gefängnis innerlich frei gefühlt haben, weil es dort zu der ultimativen Zuspitzung kam, dass ihnen Schlimmeres, als was sie schon erfahren hatten, nicht mehr passieren konnte. Ein großer Gedankensprung: Sie sind zwar ohne Macht, aber nicht ohnmächtig. Und noch etwas kommt hinzu: Die Fratze der Herrschaft, die Kostümierungen der Gewalt fallen ab, und es zeigt sich, was Macht ist, nämlich immer Repression.

Die Folterer kommen in Ihrem Roman wie gewöhnliche Handwerker daher. Haben sie sogar so etwas wie ein Berufsethos?

Die ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter, mit denen ich gesprochen habe, betrachten ihr Tun tatsächlich als ein Handwerk wie jedes andere auch. Und wenn der Beruf verlangt, dass man foltert, so muss man das Foltern eben erlernen, so wie ein anderer das Handwerk des Schreiners oder Installateurs. Das ist systemübergreifend und gilt, wie wir wissen, auch für die CIA. Das Böse kommt nur scheinbar melodramatisch und diabolisch aufgeladen, unter Trommeln oder mit Blitz und Donner daher. Es ist von einer erschreckend nüchternen Normalität.

Wollen Folterer ihren Opfern nicht sogar weiß machen: "Bei mir bist du in guten Händen", um Ihnen eine besondere Form der Intimität aufzuzwingen?

Natürlich, wenn ich Sie tagelang schlage, entsteht unweigerlich Intimität. Alle Folteropfer, die ich befragt habe, erzählten mir, dass vor allem die Jüngeren unter den Folterern fast immer eine Alkoholfahne hatten, weil sie sich Mut angetrunken hatten, psychologisch verspürten sie dann auch noch die Notwendigkeit, von ihren Opfern eine Art moralische Entlastung zu erhalten.

Es heißt dann: "Warum machst du es mir nur so schwer? Kannst Du nicht einmal einsehen, dass wenn du endlich gestehst, ich dir dann gar nichts machen muss? Unterstütze mich doch bitte bei der Arbeit: Du musst nur hier unterschreiben, und dann haben wir kein Problem mehr. Wieso stellen Sie sich immer nur quer? Das müsste doch wirklich nicht sein..." Dahinter steckt eine schier unglaubliche Pathologie.

"Die Macht fürchtet nichts mehr als den Humor"

Von "Pathologie" sprechen Psychologen und Psychiater nach beiden Seiten. Für die Langzeitfolgen von Gewalt-und Folteropfern hat sich wie eine Zauberformel das Label "PTBS" als Abkürzung für "Posttraumatische Belastungssstörungen" eingebürgert. Werden damit nicht genuin menschliche Reaktionen auf Gewalt, Schmerz und Terror zu dysfunktionalen "Störungen im Betrieb" pathologisiert?

Es ist beides. Ich erinnere mich, und habe das auch in den Roman eingebaut, mit einem ehemaligen Folteropfer über einen Marktplatz in Sofia geschlendert zu sein, als dort gerade ein Volkslied zu hören war. Da ist der Mann völlig erstarrt und sagte: "Macht das aus! Bitte macht da aus!" Und dann ist er weggelaufen. Später hat er mir erzählt: Während der Untersuchungshaft seien die Gefängniszellen mit unerträglich lauten Volksliedern beschallt worden. Ähnlich wie hier werden posttraumatische Symptome von unter Umständen völlig harmlosen Dingen wie einem Volkslied ausgelöst.

Zu den absurdesten Beispielen von Pathologie der Macht gehört in Ihrem Roman die beinahe surreale Szene, in der ein Folterer seinem ehemaligen Kollegen zum Geburtstag ein Ständchen in Form eines selbst verfassten Gedichts darbringt.

Ich sprach selbst mit einem ehemaligen Folterknecht, einem wirklich widerlichen Kerl, der mir am Ende eröffnete, er habe unterdessen denselben Beruf wie ich ergriffen und schreibe Gedichte.

Wie Radovan Karadžić und andere Schlächter im Bürgerkrieg um das ehemalige Jugoslawien, die in den Pausen des Gemetzels und der Massaker Gedichte schrieben?

Ja, es ist zwar nicht leicht, ein gutes Gedicht zu schreiben, ganz schwer aber ist es, ein wirklich schlechtes Gedicht zu verlassen. Man muss nur, wie meine Romanfigur das macht, das Wort "Glühwürmchen" über seine Verse setzen, dann ist schon beinahe alles gewonnen.

Gibt es etwas, das die Macht aus dem Konzept bringt?

Ja, Humor! Die Macht fürchtet nichts mehr als den Humor, der sie lächerlich dastehen lässt. Deshalb sollten wir auch in Demokratien keine Gelegenheit auslassen, uns über die Mächtigen lustig zu machen und alle Versuche der Macht, sich mit Pathos in Szene zu setzen, ins Lächerliche ziehen.

"Flüchtlingen würde ich sagen: Dies ist ein christliches Land", sagt Rafik Schami. Lesen Sie hier das vollständige Gespräch mit dem Autor, geführt von SZ-Redakteurin Sonja Zekri auf der Frankfurter Buchmesse.

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