Idol:Jazz ohne Bierbauch

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Nur wegen ihm wollen derzeit Tausende Menschen Klavierspielen lernen: Die Geschichte des Klangvirtuosen Jamie Cullum, der weltweit Konzertsäle beben lässt

Martin Zips

An der Universität sei er einmal in eine wunderschöne blonde Frau verliebt gewesen, sagt Jamie Cullum. Eine Frau, die ihn um viele Zentimeter überragt habe. Kunststück, denn Herr Cullum ist nicht besonders groß. Und Männer, die nicht besonders groß sind - da muss man nicht drum herum reden - legen sich umso leidenschaftlicher ins Zeug. Etwa, wenn es um Frauen geht. Cullum fragte also seine Angebetete, ob sie nicht Lust hätte, ihn einmal auf der Bühne zu sehen. Er gebe nämlich Konzerte, auf denen er deutlich größer wirke. Sie hatte Lust. Nach dem Konzert fragte Cullum, ob ihr der Song "Next year, baby" gefallen habe, den habe er nur für sie geschrieben. Der Song gefiel ihr. Danach fragte er, ob sie nicht mit ihm etwas trinken gehen möchte. Die Blonde wollte. "Beim Wein entdeckte ich, wie furchtbar langweilig diese Frau doch war", sagt Jamie Cullum. "Da bin ich gegangen. Das Lied aber, das ich für sie geschrieben habe, das ist geblieben."

Jamie Cullum (Foto: Foto: AP)

Es gibt keine Musik, mit der man diese kurze Geschichte voller Liebe, Tragik und Komik besser untermalen könnte als Jazz. "Next year, baby" ist ein wunderschöner Song - voller Verzweiflung und Lebensfreude. Seit 18 Monaten schon singt und spielt der Stimm- und Klaviervirtuose Jamie Cullum, 27, das Lied fast täglich auf seinen Konzerten in Europa, den USA, Asien, Afrika und Südamerika. Gerade ließ er die Münchner Philharmonie beben. Und wenn er seine Tour am 7. Dezember in Tokio beendet - auch dieses Konzert ist ausverkauft - wird er das Lied für die verblasste Blonde wieder spielen. Er wird aus ehrwürdigen Jazz-klassikern wie "Old devil moon" respektlos poppige Versionen basteln, Anleihen bei Oscar Peterson und George Gershwin nehmen und in seinen selbstkomponierten Songs um Verständnis dafür bitten, dass man als Zwanzigjähriger noch nicht Liebe von Sex unterscheiden kann und überhaupt nur von "illusion und confusion" umgeben ist.

Was Robbie versuchte, hat Jamie geschafft

Das alles ist eingebettet in eine große, keineswegs oberflächliche Show. Noch rätselt die Musikkritik, ob es sich bei Cullum um einen "Sinatra in Bluejeans" ( New York Times), einen "Beckham des Jazz" ( Die Welt) oder einen "DiCaprio in Turnschuhen" ( Die Zeit) handelt. In Großbritannien, so viel ist sicher, wollen plötzlich Tausende unbedingt Klavierspielen lernen. Nach Einschätzung britischer Musikpädagogen liegt das an Jamie Cullum. Was Robbie Williams mit seinem Bigband-Album "Swing when you're winning" versuchte - nämlich den Jazz auch Menschen näherzubringen, die nicht zur Gruppe der ergrauten Oberstudienräte, der aufgeschwemmten Sozialdemokraten oder (schlimmer noch) der karrieregeilen Betriebswirte gehören - Cullum hat es geschafft. Überhaupt tummeln sich auf dem Musikmarkt derzeit viele junge, gute Musiker mit einem Faible für wertkonservativen Jazz. Der New Yorker Peter Cincotti zum Beispiel oder der großartige kirgisische Pianist Eldar Djangirov.

Cullum wuchs im englischen Wiltshire auf, in einem recht multikulturellen Umfeld. Seine Großmutter stammt aus Ostpreußen, der Opa war Halbspanier. Sein Vater ging in Jerusalem zur Schule, die Mutter - eine Birmanin - nahm ihren Jungen in England jeden Sonntag mit in die Kirche. Bis Jamie irgendwann rausgeworfen wurde, weil er während der Messe "sehr spezielle Comics" in seinem Liederbuch studierte. Zusammen mit Großvater und Onkel musizierten seine Eltern in einer Band. Bald entdeckte Cullum seine Liebe zur Musik, lernte ein bisschen Klavier und Gitarre, durchwühlte die Jazzplattensammlung der Eltern, trat - während sich seine totlangweiligen Altersgenossen neben riesigen Blondinen in den Clubs erste Drinks bestellten - einer Rentnerband bei. Während seines Anglistik-Studiums drehte er Super-8-Filme, die er mit Selbstkomponiertem unterlegte. Er spielte in Bars, auf Hochzeiten, Kreuzfahrtschiffen und oberbayerischen Festivals. Für die Produktion seines ersten Albums nahm er einen Kredit auf und verkaufte die CD auf Konzerten.

Nächstes Jahr will er Noten lernen

Als der britische Thomas Gottschalk, ein Mann namens Michael Parkinson, Jamie Cullum in seine Samstagabendshow einlud, prügelten sich plötzlich auch große Plattenfirmen um den Sänger. Eine Million britische Pfund erhielt er für seinen Plattenvertrag bei Universal. Sein Album "Twentysomething" wurde Ende 2003 zum schnellst- und bestverkauften Jazzalbum in der englischen Musikgeschichte. Um ihn noch bekannter zu machen, schickt man ihn nun ständig rund um den Globus. Wer in ihm einst einen Geheimtipp sah, hofft nun inständig, sein großes Talent möge nicht - wie im Showgeschäft üblich - allzu schnell verbrennen. Nächstes Jahr macht er erst mal Pause. Dann möchte er endlich Noten lernen. Kein Witz. So richtig vom Blatt spielen, das kann er nämlich bis jetzt nicht. (Cullum spielt an diesem Donnerstag im Berliner Tempodrom. Es gibt noch Karten.)

© SZ vom 23.11.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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