Ideengeschichte:Spielen, um zu verlieren

Tim Leberecht

Gastautor Tim Leberecht als Redner bei der TED Conference in Vancouver.

(Foto: Bret Hartman/TED)

Wer die Wachstumsdoktrin kritisiert, muss den Gewinner als Archetyp des gesellschaftlichen Ideals infrage stellen. Denn nur eine Abkehr vom sozialdarwinistischen Menschenbild der Gegenwart hilft, die Krisen-Ära zu meistern.

Von Tim Leberecht

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz verkündete der US-Außenminister Mike Pompeo in diesem Jahr: "Wir hier im Westen sind alle am Gewinnen." Und wiederholte damit das Versprechen seines Chefs, Donald Trump, an seine Landsleute: "Wir werden so viel gewinnen, dass wir vom Gewinnen müde werden." Alle anderen, die da nicht mitziehen, sind für Trump: "Loser". Verlierer. Versager.

Deutsche finden solches Gepolter lächerlich, obwohl das Gewinnen auch in Europa als Erfolgsformel gilt. Rücksichtslosigkeit und Gier helfen auch auf dieser Seite des Atlantiks weiter. Mittlerweile darf man zwar hin und wieder scheitern. Aber nur im Sinne des aus der Silicon-Valley-Start-up-Szene importierten "Fail Forward", wo man missglückte Versuche als Lernerfahrung betrachtet. Die richtigen Verlierer sind die anderen, die nicht mehr Schritt halten können mit Globalisierung und Digitalisierung. Denn das Gewinnen ist der Quellcode des Wachstumsprinzips, des Motors unseres Wohlstands.

Das Wachstumsprinzip ist eine hartnäckige Doktrin. Ihre Verfechter sehen im Wachstum eine anthropologische Notwendigkeit. Die Corona-Krise hat jedoch Zweifel geweckt. Die grenzenlose globale Wirtschaft, mit ihren dezentralen Lieferungsketten und ihrer nahezu grenzenlosen Mobilität, ist zum Risikofaktor geworden. Das grenzenlose Wachstum wirkt angesichts der Pandemie wie ein Anachronismus. Sie hat die strukturellen Krisen aufgedeckt und teilweise beschleunigt, die die Folgen des Wachstumsdenkens sind: die Klimakrise, die zunehmende soziale Ungleichheit, der Anstieg psychischer Erkrankungen sowie der Verlust der Privatsphäre und der Datensouveränität an die digitalen Plattformen der Überwachungsökonomie.

Neue Denkansätze und systemische Alternativen zum extraktiven Wachstum gibt es. Zum einen kursieren seit Jahren diverse Vorschläge, das Bruttoinlandsprodukt durch differenziertere Messgrößen, die kollektives, individuelles und planetares Wohlergehen berücksichtigen, zu ersetzen.

Im Silicon Valley rebellieren inzwischen die "Zebras" gegen die "Einhörner"

Des Weiteren findet die sogenannte "Circular Economy", die Kreislaufwirtschaft mit ihren ökologisch-regenerativen Geschäftsmodellen, immer mehr Anhänger. Oder die Donut-Ökonomie der britischen Ökonomin Kate Raworth, die das ideale Wirtschaftssystem mit einem Donut vergleicht. Im Zentrum stehen da die Bedürfnisse der Gesellschaft, drumherum sind die Grenzen des Wachstums durch endliche Ressourcen und die Belastbarkeit des Planeten Erde.

Beide Modelle denken Produkte "endlos", das heißt unter Erhaltung der benutzten Rohstoffe, als Bilanz ohne Negativa. Das erinnert an die Theorie des "infinite games," des unendlichen Spiels, die der US-Amerikaner James P. Carse entwickelte. Während ein endliches Spiel, in Sport, Politik, Militär oder Business, dazu dient, zu gewinnen (Reichtum, Ruhm oder Macht) und folglich Gewinner und Verlierer produziert, geht es beim unendlichen Spiel einzig und allein darum, das Spiel zu spielen. Das endliche Spiel ist Mittel zum Zweck, ist extrinsisch, das unendliche Spiel ist intrinsisch, ist Zweck an und für sich. Es kennt keine Gewinner oder Verlierer, nur Spieler. Im heutigen Business-Jargon würde man das als ein Unternehmen verstehen, das sich einer längerfristigen Mission, einem "Purpose", verschreibt, ohne diese jemals tatsächlich erreichen zu müssen.

Erste Modelle setzen das neue Denken inzwischen in die Praxis um. Mit der Idee der "Benefit Corporation" zum Beispiel. So nennt man eine Firma, die das Gemeinwohl zum Geschäftsziel erklärt. In den USA ist das schon eine Rechtsform, in Europa bisher nur in Italien.

Ähnlich funktioniert das Prinzip der "Steward Ownership", eine Eigentumsform, die den "Purpose" des Unternehmens zum alleinigen, symbolischen Anteilseigner macht, ohne die Möglichkeit, jemals Anteile zu verkaufen. Das verankert nachhaltiges Wirtschaften in der immanenten Geschäftslogik. Und in der Start-up-Welt rebellieren immer mehr sogenannte Zebras gegen die Unicorns: Firmen, die sich im Gegensatz zu den Unternehmen mit einem Börsenwert in Milliardenhöhe nicht nur exponentiellem Wachstum, sondern sozialen und ökologischen Interessen verschreiben.

Die Wachstumsskepsis geht inzwischen bis in die Psychologie. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen dem Wachstumsprinzip mit seinem Zwang zu gewinnen und einer Kultur der radikalen Positivität, die nichts anders ist als der Zwang, immer glücklich, gesund und produktiv zu sein. Diese Geisteshaltung wird von den Rückkopplungsschleifen der Internet-Plattformen ebenso verstärkt wie durch die sozialen Medien, die den Wettbewerb der Identitäten globalisieren.

Wer das ungehemmte Wachstum eindämmen will, der muss nicht nur neue wirtschaftliche und sozialpolitische Instrumente überprüfen, sondern auch die Psychologie des Gewinnens. In einer Gesellschaft des inklusiven Wachstums kann man verlieren, ohne Verlierer zu sein oder zum Gewinner werden zu müssen. Sie schafft Platz für Negativität, für sogenannte negative Emotionen wie Melancholie oder Trauer.

Aussteigerromantik hat in diesen neuen Denkschulen keinen Platz. Es geht vielmehr um das Bewusstsein, dass die Kosten des Handelns immer mitgerechnet werden müssen. Denn wenn Wachstum das Symbol des Erfolges ist, und Erfolg Kern der Identität, wird Gewinnen alternativlos. Die daraus resultierende Macho-Gesellschaft der Aggression, die das Gewinnen über alles andere stellt, führt direkt zu Trump, in eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft und in die Klimakatastrophe. Wenn das Wachsen aber im Kollektiv mit anderen und der Natur erfolgt, und wir uns so in die Gesellschaft integrieren, dann wird Verlieren zur Kernkompetenz eines sanfteren und nachhaltigeren Wirtschaftens, das keine Verlierer, keine Anderen mehr kennt.

Der Autor ist Essayist und einer der beiden Gründer des "House of Beautiful Business"-Think Tanks. Zuletzt erschien von ihm im Droemer Verlag "Gegen die Diktatur der Gewinner".

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