Ideen, die uns bleiben:Guten Tag, auf Wiedersehen!

Kalkulierter Tabu-Bruch, ökologische Schuldgefühle, Kukident-Talk im TV und Klassik, die jetzt sexy sein muss: Welche Ideen aus dem alten Jahr begleiten uns ins neue? Die Bilder.

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Blickt man auf das Jahr zurück, sind es vor allem die Ereignisse, die in Erinnerung bleiben. Was aber auch morgen noch Bestand hat, was Kriege, Katastrophen und den allgemeinen Wandel überdauert, sind Ideen. Die Auswahl, die wir zum Beginn des neuen Jahres getroffen haben, ist gewiss kein Kanon für die Ewigkeit. Ob diese Ideen Zukunft haben, kann schließlich niemand voraussagen. Wer weiß schon, wie lange sich die Welt für das E-Book oder Konzeptautos, für MySpace Music oder Bollywood-Filme begeistern wird? Schon jetzt aber haben sie unser Denken verändert und werden uns weiter begleiten.

Alte Experten

Böse Zungen sprechen vom "Kukident-Talk", wenn zur besten Sendezeit die Generation Ü80 die Welt erklärt. Derlei Häme ist unangebracht. Deutschland wird immer schneller immer älter, und darauf bereitet es sich angemessen vor: Es ehrt seine Greise. Bereits 2025 wird jeder Zweite seinen 47. Geburtstag hinter sich haben. Gegenwärtig liegt die Alters-Mitte noch bei 42 Jahren. Ist es da nicht trostreich, den Ausblick auf ein derart respektiertes Rentnerdasein zu genießen? Erst wenn Ostexperte Wolfgang Leonhard (87), Krisenspezialist Egon Bahr (86) und Nahostfachmann Peter Scholl-Latour (84) die Katastrophen schicksalsschwer gedeutet haben, ist dem Chaos ein wenig Ordnung abgerungen. Für das heitere Fach empfiehlt sich Kabarett-Veteran Dieter Hildebrandt (81), für die theologische Globaldeutung ein ebenso junger Papst. Über allen thront der Altkanzler und Megabestsellerautor Helmut Schmidt (90). Eine Nation hängt an seinen Lippen, wenn von dort die Weisung ergeht, man möge sich zusammenreißen, pragmatisch sein und niemals verzagen. Das ist der Refrain der 2008 zur medialen Allgegenwart aufgestiegenen Senioren: Bangemachen gilt nicht, alles schon mal dagewesen! Ein Land in kollektiver Midlifecrisis hört es gerne.

Alexander Kissler

Illustrationen: Jörg Dommel

(SZ vom 31.12.2008/sueddeutsche.de/rus)

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Kalkulierter Tabubruch

Eigentlich hatte sich der Tabubruch Mitte des 20. Jahrhunderts erledigt. Kunst durfte einfach - alles. Abstrakte Malerei, Free Jazz, experimentelle Formen von Literatur, Theater und Film hatten so ziemlich alles ausgereizt, was Kultur und menschliche Aufnahmefähigkeit hergeben. Dieses Jahr aber kehrten die Tabubrüche mit Vehemenz zurück. In der Literatur berichtete Charlotte Roche in "Feuchtgebiete" detailliert von ihren Körperfunktionen, und Jonathan Littell erzählte in "Die Wohlgesinnten" mit pornographischer Wucht die Geschichte des homosexuellen SS-Offiziers Maximilian Aue. In der Kunst planten Gregor Schneider und Marco Evaristti unabhängig voneinander, den Tod als Kunstwerk zu inszenieren. Schneider wollte einen Freiwilligen vor Publikum sterben lassen, Evaristti einen zum Tode verurteilten zu Fischfutter verarbeiten. Doch im Gegensatz zur Kunst des 20. Jahrhunderts geht es den neuen Provokateuren nicht darum, Grenzen zu überschreiten. Die Provokation war reiner Nervenkitzel. Der Erfolg des Tabubruchs wird sie weiter ermuntern.

Andrian Kreye

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Ökologische Schuldgefühle

Lange Zeit lehrten Psychologen, dass es das Wichtigste für ein glückendes Leben sei, sich von Schuldgefühlen frei zu machen. Im Über-Ich sah man die böse Autorität verkörpert, die dem Lustprinzip einen Riegel vorschiebt. Das Lustprinzip seinerseits fühlte sich noch stets am wohlsten, wenn es Vollgas geben durfte. Dieser Gas-Spaß ist vorbei. In Zeiten des Umweltbewusstseins hinterlässt jeder Schritt seinen ökologischen Fußabdruck. Ohne schlechtes Gewissen hat die Welt, wie wir sie kennen, nämlich keine Überlebenschance. Nur wenn das Öko-Über-Ich für Schuldgefühle sorgt, können wir auch morgen noch tief durchatmen. Jedes Leben wird künftig seine persönliche Energie-Bilanz vorweisen müssen. Und selbst die Avantgardisten der digitalen Bohème machen sich die Finger an ihren Laptops schmutzig, denn die eine Milliarde Computer weltweit sorgen für zwei Prozent der CO2-Emissionen - und liegen damit mit den Flugzeugen gleichauf.

Ijoma Mangold

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Erlösende Politik

Das Prinzip Hoffnung war in Krisenzeiten schon immer eine wirksame Wahlkampfstrategie. Gerade in den Vereinigten Staaten: Franklin D. Roosevelt, Jimmy Carter und Bill Clinton verdankten ihre Wahlsiege den jeweiligen Krisen, die ihre Amtsvorgänger ausgelöst hatten. Doch selten war der Vertrauensvorschuss so hoch wie für Barack Obama. Der junge Senator aus Chicago verkörperte trotz seiner geringen politischen Erfahrung allein durch seine persönliche Geschichte die Idee von der Wiedergeburt Amerikas als Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die Wirkung war so gewaltig, dass sie aus Obama nicht nur eine amerikanische, sondern eine weltweit gefeierte Erlöserfigur machte. Freiwillige aus aller Welt kamen, um bei seinem Wahlkampf zu helfen. So viel Emotionalität ist in der Politik gefährlich. Doch Obama legitimierte die Erlösungspolitik mit einem ungewöhnlich beherzten Pragmatismus in der schwierigen Übergangszeit bis zum Amtseid.

Andrian Kreye

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Elektronische Bücher

Viele Menschen, die berufsmäßig mit Büchern umgehen, also dauernd Gebundenes von A nach B und wieder zurücktragen, bekamen in diesem Jahr leuchtende Augen, wenn sie von dem kleinen Kästchen sprachen: Nie mehr schwere Taschen, nie mehr Ausdrucke und Fahnen, no more veraltete Lexika. Der Verleger von Kiepenheuer und Witsch, Helge Malchow, behauptete auf der Frankfurter Buchmesse, das E-Book sei ein kulturrevolutionärer Epochenbruch wie seinerzeit Gutenbergs Erfindung. Und Amazon-Chef Jef Bezos sagte, er wolle mit seinem Kindle zum "Angriff auf die letzte Bastion des Analogen" blasen. Tatsache ist: Das E-Book ist mal wieder da, diesmal aber ist es richtig gut, mit viel Speicherplatz und sinnvollen Gimmicks: Man kann Anmerkungen an den Rand schreiben, die Schrifttype anpassen und mindestens 200 Bücher mit in den Urlaub nehmen. Vor allem aber liest es sich dank E-Paper-Technik sehr angenehm und augenschonend auf den neuen Bildschirmen. Was aber Bezos' Angriff auf die analoge Bastion angeht: Das ist überflüssiges Kriegsgeheul. Das Buch wird deshalb noch lange nicht sterben, und all die Lektoren, Verleger, Gadget-Liebhaber, die jetzt so aufgekokst daherreden, werden trotzdem ihr Altpapier behalten.

Alex Rühle

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Humanoider Pop

Ihre Formen hat die populäre Musik schon seit einiger Zeit gründlich verbraucht. Kadenzen, Harmoniefolgen, Rhythmen - all das gehorcht in den am Massenerfolg orientierten Spielarten des Pop in der Regel verhältnismäßig alten, eisernen Regeln. Es ist kein Zufall, dass echte Pop-Innovationen längst vor allem Sound-Ideen sind, gerne auch Geräusch-Exzesse wie der mit extremen Verzerrungen operierende Filter House der Elektro-Tüftler des Pariser Labels Edbanger. Oder eben der Gesang, der seinen Klang dem Computerprogramm Auto-Tune der amerikanischen Firma Antares verdankt und der sich 2008 mit dem großen neuen Album "808s & Heartbreak" des Produzenten, Rappers und R'n'B-Sängers Kanye West als endgültig ernstzunehmend etabliert hat. Die von der Software verfremdete Stimme klingt seltsam humanoid, roboterhaft. Wie eine Art digitales Jodeln, metallisch sägend und irritierend wabernd, flatternd. Es geht dem Hörer reichlich kühl hinein und erzeugt doch eine angenehm entrückte Stimmung. Der als Cher-Effekt bekannt gewordene Sound entsteht im Grunde durch einen Missbrauch. Eigentlich sorgt Auto-Tune als Programm zur digitalen Tonhöhenkorrektur unmerklich dafür, das falsch singende Sänger plötzlich doch alle Töne treffen.

Jens-Christian Rabe

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Individualisierte Medizin

Mehr als zehn Jahre dauerte die Entzifferung des ersten menschlichen Genoms. Inzwischen genügen weniger als zehn Wochen, um die Abfolge der rund drei Milliarden Basenpaare des menschlichen Erbguts zu sequenzieren. Seit diesem Jahr ist klar: In nicht allzu ferner Zukunft wird dieser Prozess nur noch zehn Minuten dauern. Wenn auch nicht im Supermarkt, wie gelegentlich kolportiert wird, aber in der Hausarztpraxis wird es möglich sein, das ureigene und vollständige Genom jedes Menschen aufzuschlüsseln. Anders als der Film Gattaca vor einigen Jahren suggerierte, offenbart sich dadurch nicht das unabwendbare Schicksal des Individuums. Zu mächtig sind die Mechanismen der sogenannten Epigenetik, bei der die Umwelt Funktion und Wirkung der Gene beeinflusst. Doch die schnelle Sequenzierung des Erbguts wird die Ära der individualisierten Medizin einleiten. Der Nutzen oder die Sinnlosigkeit vieler Medikamente kann dann ermittelt werden, bevor die Wirkstoffe verabreicht werden. In pharmazeutischen Experimenten mit Antidepressiva funktioniert das bereits. Auch das Brustkrebsmedikament Herceptin ist ein Beispiel: Es wird nur verabreicht, wenn ein Test auf eine Mutation positiv ausfällt. Bei anderen Patienten ist es wirkungslos.

Patrick Illinger

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Dokumentarisches Theater

Kaum irgendwo scheint in diesen Zeiten die so genannte Wirklichkeit echter als auf der Theaterbühne. Während ringsherum alle so tun "als ob" (was einmal die vornehmste Aufgabe des Theaters war) und sich sämtliche Konkretheiten in der virtuellen Welt der Finanzen, Bilanzen und globalen Allianzen verlieren, dreht das Theater den Spieß um. Egal, ob ein Christoph Schlingensief seine Krebserkrankung zum Inhalt einer Inszenierung macht oder ein Volker Lösch 42 Hamburger Sozialhilfeempfänger mit wütendem Furor auf die Bühne schickt: Es ist die Sehnsucht nach Echtheit, nach Authentizität und Identität, die sich mit Vehemenz Bahn bricht, auch als Ausdruck der Verunsicherung. Um die Wirklichkeit ins Theater zu holen, wird sie nicht mehr nur kunstfertig abgebildet, sondern vertreten durch Repräsentanten des wahren Lebens, vulgo Laien. Arbeitslose, Hartz IV-Empfänger, Asylbewerber, Jugendliche aus Problemvierteln sind die neuen Stars im Real-Life-Theater. "Experten des Alltags" nennt sie das Regiekollektiv Rimini Protokoll, das den Doku-Trend maßgeblich mitgeprägt hat. Wir werden um diese Experten so schnell nicht mehr herumkommen. Wem die Wirklichkeit abhanden zu kommen droht, der muss sich ihrer vergewissern. Das Theater hat da im Moment eines der raren Echtheitssiegel.

Christine Dössel

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Ökonomische Verhaltensforschung

Als man beim Ausbruch der Wirtschaftskrise mit den herkömmlichen Erklärungsmodellen der Ökonomie, der Mathematik und der Geschichtswissenschaften nicht mehr weiterkam, erinnerte man sich in diesem Herbst an die Verhaltensökonomie. Dieses relativ junge Feld interdisziplinärer Wissenschaften verbindet Psychologie, Verhaltensforschung und Wirtschaftswissenschaften. Ziel ist es dabei zunächst, den Homo Oeconomicus als Mythos zu entlarven. Denn der ökonomisch rational handelnde Mensch, der nicht nur seinen eigenen, sondern den Profit aller mehrt, ist zwar eine Grundannahme der meisten Wirtschaftswissenschaften, doch letztlich eine Utopie. Vergleiche mit triebhaften Spielsüchtigen greifen schon eher. Doch so schlicht wird in der Verhaltensökonomie nicht geforscht. Derzeit wird nach den Auslösern im Unterbewusstsein gesucht, die das ökonomische Verhalten von Menschen und Massen bestimmen. Hat man diese nämlich erst verstanden, kann man auch Erklärungsmodelle für die komplexen Dynamiken des Marktes finden.

Andrian Kreye

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Werbefinanzierte Gratismusik

Lange sah es so aus, als würde der unter massiven Umsatzeinbrüchen leidenden Musikindustrie nichts einfallen zur Herausforderung Internet. Die Hörer luden immer mehr Musik illegal aus dem Netz, und die Plattenfirmen prozessierten symbolisch gegen allzu dreiste Raubkopierer und Filesharer. Dann geschah doch noch das kaum Vorstellbare: Die hart konkurrierenden größten Plattenfirmen Sony, Warner, EMI und Universal gründeten gemeinsam mit dem Medienunternehmer Rupert Murdoch in den USA den Internet-Dienst MySpace Music. Seit Ende September kann man dort große Teile der Label-Archive zwar nicht herunterladen, aber doch jederzeit kostenfrei abspielen, streamen. Für Einnahmen müssen Werbung, Download- und Ticket-Verkauf sowie Merchandising sorgen. 2009 soll MySpace Music auch in Europa zugänglich sein.

Jens-Christian Rabe

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Mächtige Schwellenländer

Balram Halwai, der Held von Aravind Adigas Roman "Der Weiße Tiger", erzählt in sieben E-Mails sein ganzes Leben, seinen Aufstieg vom mittellosen Dorfjungen zum Unternehmer. Die Mails richtet er direkt an Wen Jiabao, den Premierminister von China. Denn China und Indien, so der selbstbewusste Halwai, werden in zwanzig Jahren die Welt beherrschen. Ähnlich sah das vor vier Jahren der damalige Chefvolkswirt von Goldman-Sachs Jim O'Neill, als er Brasilien, Russland, Indien und China (kurz: Bric) zu den vier Staaten erklärte, die bis 2050 die G8 überflügelt haben würden. Im Strudel der Finanzkrise wurden zwar mittlerweile auch die vier Aufsteiger bös gebeutelt, auf kulturellem Gebiet aber sind Indien und China immer einflussreicher geworden. Es gibt in jeder deutschen Stadt Bollywood-Videotheken und Fanclubs für die großen Stars wie Shah Rukh Khan; die Kunstbiennale von Peking wurde zum Dreh- und Angelpunkt; indische Galerien eröffnen Dependancen in Berlin. Und Aravind Adiga bekam für seinen Roman über die "Autobiographie eines halbgaren Inders" den Booker-Prize.

Alex Rühle

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Coole Klassik

Es kann für einen Musiker nicht von Übel sein, dem Publikum einen erfreulichen, hinreißenden Anblick zu bieten. Noch besser ist es, wenn dann auch noch hinreißend musiziert wird. Nicht erst seit Anna Netrebkos Erscheinen verstärkt sich der Eindruck, dass Klassik-Solisten Modelqualitäten haben sollten. Das suggerieren die Plattenfirmen, die ihre weiblichen Stars präsentieren, als seien sie das neue Bond-Girl oder gleich das Playmate of the Month. Inzwischen werden auch männliche Kollegen gern als DreitagebartMachos wie der Tenor Jonas Kaufmann oder als coole Dressmen oder als entlaufene Rockstars wie der Geiger David Garrett präsentiert. Es sei schwer, die Macht über das eigene Bild zu behalten, monierte jüngst die so strenge wie attraktive Geigerin Julia Fischer. Sie sollte à la Man Ray fotografiert werden: Eine Nackte wendet dem Betrachter ihren geschwungenen Rücken zu, den zwei aufgemalte F-Löcher erotisch zieren.

Harald Eggebrecht

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Rastlose Raumfahrt

Es geht der Raumfahrt, so scheint es, seit einiger Zeit wie der Atombombe. Jeder will sie, aber keiner weiß so recht, was er wirklich davon haben wird. Viele Jahre schien sie ad acta gelegt, ein nutzloses Spielzeug des Rüstungswettlaufs im Kalten Krieg, als USA und UdSSR sich gegenseitig hochschaukelten, mit Sputnik und Sojus, Apollo und Challenger. Die Mondlandung war das Highlight der sechziger Jahre, danach gab es noch ein paar vage Träume vom bemannten Flug zum Mars. Der Betrieb in der Raumstation ISS, international betrieben, ist heute Alltagsroutine. Aber nun haben nicht nur die beiden Ex-Großmächte ihre alten Weltraumpläne wieder vorgeholt - Ares V, eine Rakete für eine bemannte Mars-Mission -, auch andere Länder haben mit eigenen Programmen begonnen. China schickt Taikonauten ins All, für Indien kreist seit kurzem Chandrayaan-1 um den Mond, auch die EG kann es nicht lassen. Der Nutzen dieser Programme für die Lösung der dringlich gewordenen Weltprobleme - Klimawandel, Ressourcenknappheit, Überbevölkerung - ist marginal, aber die Idee ist gewaltiger denn je: den Raum beherrschen, die Grenzenlosigkeit erfahren. Raumfahrt steht, man weiß es seit Kubricks "2001", für große Geschichte im Walzertakt.

Fritz Göttler

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Globale Regionalisierung

In Amerika traben die "locavores" zum örtlichen Bauern, weil sie genug haben von den Nahrungsmittelmultis. In Deutschland werden regionale Börsen gepriesen, hie und da geben lokale Geschäftsleute sogar eine eigene Währung heraus. In Großbritannien erklären sich Städte zu "transitional towns" und probieren die Selbstversorgung. Regionalismus ist wieder populär, scheint er doch eine nachhaltige Alternative zu sein zur globalisierten Wirtschaft und all dem Übel, das sie über die Welt gebracht hat: Ausbeutung von Mensch und Natur, Umweltzerstörung, Energieverschwendung, Fremdbestimmung durch internationale Konzerne. Regionalisten möchten wieder Herr über ihr eigenes Schicksal sein; der Kollaps der Finanzmärkte und die Wirtschaftskrise scheinen ihnen recht zu geben. Wahr ist aber auch, dass der Regionalismus bislang nur wenige Erfolge vorweisen kann. Sein Dilemma steckt in ihm selbst, gibt er sich doch links, antiimperialistisch und antikapitalistisch, beruht aber zugleich auf einem zutiefst konservativen, wenn nicht gar reaktionärem Weltbild, das jedem Fernen und Fremden misstraut.

Petra Steinberger

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Kultische Kunst

Früher verstaubten sie diskret in den Depots von Völkerkundemuseen - jetzt sind sie überall zu sehen: die kunstvoll bemalten Menschenschädel aus Ozeanien, die Kopfjäger um 1900 gegen Glasperlen tauschten oder einfach stahlen. Dazu Masken, Ahnenfiguren, Naturgötter aus Bast: Artefakte mit kultischer Vergangenheit. 2008 kombinierten allein in Berlin mehrere Ausstellungen ethnologische Stücke mit westlicher, gerne junger Kunst. Was dieser spirituelle Flügel verleiht - und die Werke der alten Nichteuropäer vertrauter erscheinen lässt als sie es sind. Noch suchen alle nach dem richtigen Weg: Denn dass die Kunstgeschichte der Zukunft keine rein europäische mehr sein kann, steht fest. Wie also Fern und Nah zusammenbringen? Die Verantwortlichen des Humboldtforums im neuen Berliner Schloss werden 2009 eine Antwort finden müssen.

Kia Vahland

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Sparsame Konzeptautos

Konzeptcars: Das sind die Visionen der Automobilindustrie, die auf den Autoshows für Furore sorgen. Sei es, weil sie so futuristisch aussehen, sei es weil sie eine technologische Innovation versprechen. Meistens verschwinden diese Visionen wieder wie Fieberträume. Das ist in vielen Fällen auch gut so. Doch es gibt Ausnahmen. Zum Beispiel den Tesla Roadster. Dieser rein elektrisch betriebene Sportwagen wurde nun erstmals als Kleinserie gefertigt - und hat sich damit bereits vom Konzept zum Car weiterentwickelt. Oder der BMW Gina Light: Bei diesem Sportwagen überspannt ein metallisch schimmernder Stoff das bewegliche Alu-Skelett. Das ist vorerst noch reiner Futurismus, der an die "Terminator"-Folgen im Kino denken lässt. Beiden Projekten ist aber eines gemeinsam: Sie denken über die Weiterentwicklung des Automobils unter ökologischen Aspekten nach und schaffen es dennoch, nicht wie Jute-statt-Plastik auf Rädern auszusehen. Sie versuchen, Antworten darauf zu geben, wie man die Sehnsuchtsmomente der Automobilgeschichte wieder zukunftsfähig machen kann.

Gerhard Matzig

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Authentisches Kino

2008 war das Jahr, in dem Deutschland erbittert um die Frage rang, ob Tom Cruise dort sterben durfte, wo der reale Graf Stauffenberg erschossen wurde. Im Berliner Bendlerblock. Was bleibt davon? Filmbilder eines recht austauschbaren grauen Hinterhofs in "Operation Walküre". Beim "Baader Meinhof Komplex" wirkten die genau studierten Polizeiberichte, durchnummerierten Einschusslöcher und originalgetreuen Zellentoiletten am Ende wie Erbsenzählerei, die jede Erkenntnis verhinderten - und trotzdem klagte die Witwe des RAF-Opfers Jürgen Ponto wegen falscher Details. Der neue Fetisch Authentizität zeigt den Film in einer Sinnkrise. Die lügenhafteste aller Erzählformen sucht Halt in der Wirklichkeit. Vielleicht sogar zu Recht. Denn die echten Mafiosi, die in "Gomorrha" auftauchten, die realen Problemschüler in "Die Klasse" brachten tatsächlich ein Gefühl auf die Leinwand, das die Regisseure anders nie hinbekommen hätten.

Tobias Kniebe

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Internationalisierte Hochkultur

Wer heute noch Visionen hat, sollte nicht zum Arzt gehen, sondern auswandern: an den Persischen Golf, wo Propheten noch ernstgenommen werden, oder gleich nach China, wo kulturelle Großtaten frei von westlichen Bürokratrie- und Demokratie-Hemmnissen rasch und mit Heerscharen von Arbeitsbienen durchgezogen werden. In die Wüste schickt sich der Kulturbotschafter von Welt heute selbst: Michael Schindhelm, dem die Berliner Opern die Luft zum Atmen nahmen, kann als neuer Kulturdirektor der "Dubai Culture & Arts Authority" einen schicken Titel vorweisen und nimmt im Sonnenstaat des 21. Jahrhunderts als Gastarbeiter nicht nur symbolisches Kapital mit - ebenso wie Thomas Krens, Expansionsstratege des Guggenheim-Imperiums, nunmehr "Senior Advisor for International Affairs", der in Abu Dhabi auf der "Insel des Glücks" ein Riesenmuseum gründet, während New York bankrott geht. Und auch die Architekten zieht es in Richtung der aufgehenden Sonne: Rem Koolhaas, Ole Scheeren sowie Herzog & de Meuron durften in China Monumente der Macht errichten. Da sieht der Westen wirklich alt aus.

Holger Liebs

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