Ibsens "Nora" :Nicht glücklich, nur lustig

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Andreas Kriegenburg inszeniert am Nürnberger Schauspielhaus Ibsens "Nora" im Diskursflirt mit dem Zeitgeist.

Von Christine Dössel

Von Anfang an muss man bei dieser "Nora" an "Lulu" denken, diese ganz andere emblematische Titelheldin eines Skandaldramas aus dem späten 19., frühen 20. Jahrhundert. Schon der sündig rot gerahmte Bühnenkasten im Nürnberger Schauspielhaus verheißt mehr ein erotisches denn ein klassisch bürgerliches Milieu, also eher Frank Wedekind als Henrik Ibsen. Gibt die strahlend weiße Bühne dann den Blick auf die Rückwand frei, wähnt man sich endgültig im Edelbordell.

Überlebensgroß, sechs Meter breit und hochglanzschön prangt da ein liegender Akt: ein Bild der nackten Hauptdarstellerin, Rückansicht, sehr ästhetisch fotografiert, ihren perfekten Körper formvollendet in Szene setzend. Eine wandfüllende Männerfantasie. Auch für Frauen ein Körperidealbild - und daher vielen sicherlich Anlass für ein zerknirschtes Body Shaming, so schamlos plakativ und lasziv, wie hier Weiblichkeit im Lolita- und Modelmaß inszeniert wird. Hallo, das geht heute gar nicht mehr!

Das wissen auch Andreas Kriegenburg und seine Protagonistin, weshalb sie dieses No-Go gleich mal zum Thema machen und das Aktbild problematisieren. Da steht dann also die leibhaftige Nora, gespielt von der jungen Pauline Kästner, vor ihrem überdimensionalen Akt, fährt mit dem Finger tippelnd die Rundungen nach, trällert kindisch und ätzt: "Ich hasse dieses Bild!" Ihre Idee sei das nicht gewesen, aber ihr Mann Torvald habe es unbedingt in der Wohnung aufhängen wollen, der finde es sexy, sie selber finde es "ein bisschen sexistisch". Voilà, so nimmt man seinen Kritikern schon mal den ersten Windstoß aus den Segeln.

Da kriegt der angebliche Frauenversteher Ibsen mal so richtig sein Fett weg!

Aber damit nicht genug. Pauline Kästner adressiert im Folgenden nicht nur in ihrer Rolle, sondern auch als Schauspielerin Pauline Kästner immer wieder das Publikum. So sagt sie zum Beispiel, dass sie "als Frau und Feministin" die Rolle der Nora ablehne, weil das Stück überkommene Macht- und Beziehungsstrukturen reproduziere. Und sie macht sich im großspurigen Stand-up-Comedian-Ton über den ollen Henrik Ibsen lustig, der sich vor mehr als hundert Jahren hinsetzte und sagte: "Boah, jetzt schreib' ich mal so richtig radikal über eine Frau. Wie die sich aufführt und dann selbst befreit ..." Boah, da kriegt der angebliche Frauenversteher Ibsen aber mal so richtig sein Fett weg. Von einer Nora-Darstellerin, die als Schauspielerin zugeben muss: "Ist aber wirklich eine tolle Rolle!"

Und so stürzt sich die aufregende Pauline Kästner mit Haut und Haar und heißem Furor in die solcherart diskursiv abgefederte Traumrolle und gibt auf (pseudo-)feministischer Behauptungsgrundlage die Nora als reflektiertes Luxus-"Vögelchen". Und ist aber unverkennbar auch eine Lulu - in roten Fummeln von Kopf bis Fuß auf Verführung, Spiel, Lustgewinn eingestellt (Kostüme: Andrea Schraad). Mit ihrem Körper als Kapital und einem blonden Kindskopf für den überdrehten Spaß. Was man als kritische Zuschauerin zunächst skeptisch beäugt, weil es so wohlfeil ist, wenn ein Regisseur einen politisch korrekten Diskursrahmen auf der Höhe des Zeitgeistes setzt (wie ein Feigenblatt auf den Akt), um darin dann doch das ewig lockende Weib zu zelebrieren.

Es dominiert in Kriegenburgs Inszenierung der männliche Blick auf die (schöne) Frau, die nackte Venus, da kann die Protagonistin noch so oft aus ihrer Rolle heraustreten und diese - und sich selbst - kritisch hinterfragen. Sie tut es merklich unter seiner Regie. Das bleibt als diffuses Unbehagen, auch wenn das Konzept (Dramaturgie: Andrea Vilter) insgesamt aufgeht und einen großen Unterhaltungswert hat. Diese "Nora" ist auch deshalb überzeugend, weil da in Nürnberg wirklich gute Schauspieler zu erleben sind und weil Kriegenburg, der prominente Gastregisseur, jedem und jeder in seiner, ihrer Rolle - und Rollenzuschreibung - genügend Zeit und Aufmerksamkeit schenkt. Dadurch entsteht Interesse an den Figuren, auch an den männlichen, keine gerät zur Karikatur.

Torvald Helmer führt mit seiner Frau eine Beziehung auf ironisch-komödiantischer Augenhöhe. Maximilian Pulst spielt ihn nicht als langweiligen Klischeebanker und Karrieretypen, sondern frisch, sensibel, geistreich. Es klingt bei ihm an, dass auch er als Mann und Familienernährer ein Rollenstereotyp zu erfüllen und sein Päckchen zu tragen hat. Torvald und Nora haben sich in ihrer Ehe eingerichtet wie in einem Spiel: Einer übertreffe des anderen Witz. Sie sind gut darin. "Nicht glücklich, nein, nur lustig", wie sie am Ende erkennen müssen.

Ihr Dialog-Pingpong, mit vielen gelungenen Extempores, zielt auf Pointe und Schönwetter. Immer alles im Ton der Uneigentlichkeit. Zwei Menschen drücken sich vor Ehrlichkeit, indem sie Theater spielen. Es ist ein Kasperletheater, schrille Auftritte, schneller Schlagabtausch. Auch die von Kriegenburg selbst gestaltete Bühne befördert diese Assoziation, der hohe Aufbau, der schmale Spielflächenriegel, das fehlende Mobiliar. Ibsens "Puppenheim" als moderne Versuchsanordnung auf einer leeren Veranschaulichungsbühne. Alles hell, gelackt, ausgestellt. Es ist auch eine "Nora"-Galerie.

Wer behauptet, dass Liebe immer romantisch, geil und groß sein muss?

Neben dem sterblich in Nora verliebten Doktor Rank, einem dickbäuchig-milden Freund des Hauses (Raphael Rubino), gibt es zwei Figuren von außen, die als Katalysator wirken. Das ist zum einen die ernüchterte Kristine Linde (schön bei sich und wissend, was sie will: Julia Bartolome), die, verwitwet und mittellos, nach Jahren wieder auftaucht und beim quirligen Frauengeplänkel mit Nora "Räume öffnet", buchstäblich auch den Bühnenraum.

Der andere Krisenverstärker ist der Jurist Nils Krogstadt, der "kleinste Wicht" in Torvalds Bank, bei dem Nora blöderweise verschuldet ist. Sie hat dereinst mit der gefälschten Unterschrift ihres Vaters Geld bei Krogstadt geliehen, um ihrem damals kranken, noch nicht erfolgreichen Mann eine Kur zu ermöglichen. Was Torvald nicht weiß und der verbitterte Krogstadt sich erpresserisch zunutze macht.

Dass Tjark Bernau diesen Loser nicht als fiesen Unsympathen und sexuellen Beutegreifer zeigt, sondern ihm ein eigenes Schicksal und Mitgefühl erspielt, zählt zu den Stärken dieser menschelnden, menschlichen und auch tänzelnden Inszenierung. Dass - und wie - der einsame Krogstadt und die einsame Kristine Linde sich dann zweckgemeinschaftlich zusammentun, ist ebenfalls schön. Wer behauptet, dass Liebe immer romantisch, geil und groß sein muss?

Bei Nora und Torvald, diesen fröhlichen Ehe-Posern, geht es nicht gut. Nach einem Kostümfest, auf das sie als Charlie Chaplin ging und er als Marilyn, kommt es zur finalen Demaskierung, dem Ende aller Spielchen. Die Schlussszene, in der die zwei zum ersten Mal ernsthaft miteinander reden, ist so partnerschaftlich traurig, bitter und ratlos, dass sie einem nahegeht. Sie erklärt im Nachhinein so manche Exaltiertheit. Dass die vormals so kokette, nichts in dieser Hinsicht andeutende Nora tatsächlich Mann und Kinder verlässt (nun im schwarzen Mantel), muss man allerdings glauben wollen. Zumal sie am Ende noch einmal Pauline ins Spiel bringt, ihre so reizvolle Schauspielerin, welche sie mit dem Satz zitiert: "Wir alle sind eingesperrt in unseren Rollen." Tosender Applaus.

© SZ vom 07.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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