"I see you" von "The xx":Unheimlich heimelig

"I see you" von "The xx": Die gefeierte britische Indieband "The xx": Ihr neues Album hat noch immer diese ganz eigene, erhebende Würde, die längst viel zu oft schlecht kopiert worden ist.

Die gefeierte britische Indieband "The xx": Ihr neues Album hat noch immer diese ganz eigene, erhebende Würde, die längst viel zu oft schlecht kopiert worden ist.

(Foto: Alasdair McLellan/Beggars Group)

Das grandiose Album "I See You" von "The xx" ist so perfekt, dass man sich vor der Seichtigkeit der eigenen Träume gruselt.

Von Jens-Christian Rabe

Das neue Jahr hat schon das erste Pop-Album, auf das sich alle einigen können, die Kritiken sind fast einhellig überschwänglich: "I See You" (Young Turks), die neue, dritte Platte der dreiköpfigen Londoner Band The xx. Und vom ersten Song "On Hold" an ist es tatsächlich ziemlich unwiderstehlicher Indie-Pop, in sich vollkommen stimmig, von der elektronischen Musik infiziert, modern und irre ökonomisch produziert.

Hinter einem eiligen und etwas billigen Drum-Machine-Geklacker hängen ein paar verwehte Synthieflächen und einzelne verhallte Gitarrentöne, vorne hält der so eingängige wie angenehm verhangene, zart klagende Gesang von Oliver Sim und Romy Madley Croft das Stück in der Spur. Große Pop-Puzzle-Kunst.

Der zweite Song "Dangerous" ist danach etwas, das man womöglich den vollendeten Wohnzimmer-Dance-Track nennen muss. Der Beat pumpt zügig, ein paar Breakbeats zwackeln passgenau herum, die Bassline schiebt fließig mit, Bläser drücken - aber Sims und Crofts Gesang zerrt den Song immer wieder in eine Wolke der Melancholie, in der dann auch die Beats wie abgedämpft klingen.

Bei "Say Something Loving" schält sich die Schwermut bittersüßer Liebeswirren aus einem süßlichen Beach Boys-Gesangs-Sample heraus. "Lips" führt wieder in Zeitlupen-Nebelschwaden. "A Violent Noise" ist im Grunde die edle xx-Version einer superprallen EDM-Ballade, wie sie die Welt Superstar-DJs wie Steve Aoki oder David Guetta verdankt.

Also wirklich ganz große Kunst. "Performance", "Replica" und "Brave For You" sind alles in allem am nächsten am alten xx-Minimalismus aus ein paar Beats aus dem Synthesizer, einer sparsam gezupften, schwer verhallten E-Gitarre, einer brummenden Bass-Spur und leise-leidendem Gesang.

Verwundbarkeit ist bei ihnen ein Versprechen

Und es hat noch immer diese ganz eigene, erhebende Würde, die längst viel zu oft schlecht kopiert worden ist. Dass die Band nach dem Erfolg des 2015 erschienenen Soloalbums "In Colour" von Bandleader, Produzent und Jamie xx nun variantenreicher und Dance-orientierter agiert, ist dennoch ein Glück. Vor allem, weil ihr das Kunststück gelingt, weiter wie sie selbst und doch viel raffinierter zu klingen.

"Do I chase the night or does the night chase me?", fragen sie in "Replica". Tja, jagen sie der Nacht oder jagt die Nacht ihnen hinterher? Wohl weder noch. Sie hängen irgendwo dazwischen fest. Dort, wo man sich noch nicht entschieden hat. Oder sogar dort, wo man sich noch nicht entschieden hat, ob man überhaupt versteht, dass man sich entscheiden muss. Dort, wo die emotionale Verwundbarkeit noch ein aufregendes Versprechen ist und keine lästige Schwäche.

Drei notorisch schüchterne Musiker

Ziemlich kurios lesen sich deshalb mitunter die Interviews mit der so sympathischen wie notorisch schüchternen Band, deren Mitglieder allesamt seit frühester Kindheit eng befreundet sind.

Die Interviewer, ob in New York Times, FAZ, Spiegel oder gerade im Musikexpress, sind meist eher so etwas wie Therapeuten mit ausgeprägtem Beschützerinstinkt, in jeder Sekunde beflissen darum bemüht, beim Bergen der Erinnerungen an die Entstehung der jüngsten Platte auch ja behilflich zu sein. Weniger Journalisten als Floristen scheinen am Werk, die allzu zarten Blümchen gut zureden:

"Oliver Sim: Klar, bei uns gab es immer wieder frustrierende Momente, in denen wir dachten: Mann, wann werden wir mit diesem Album endlich fertig? (. . .) Als wir die Stücke dann unserem Manager vorgespielt haben, fragte er nur: ,Das ist super, aber wie entwickelt ihr die Songs weiter?' Und das ärgerte uns natürlich zunächst (. . .). Musikexpress: Am Ende habt ihr es zum Glück doch noch geschafft.

Sim: Ich hatte zwischenzeitlich auch Angst davor, dass man uns schon längst vergessen hat.

Musikexpress: Wirklich?

Sim: Ich habe mir zumindest Gedanken darüber gemacht, ja (. . .).

Musikexpress: Bist du denn davon ausgegangen, dass dein Soloalbum so durch die Decke geht, Jamie?

Jamie xx: Meins? Nein. Wir wollten "I See You" eigentlich schon viel früher fertigkriegen, dann kam meine Tour dazwischen (. . .).

Musikexpress: Hast du dich manchmal schlecht gefühlt, weil die anderen so viel Rücksicht auf dich nehmen mussten?

Jamie xx: Ich hab mich schuldig gefühlt, es gab viele Diskussionen."

Und so weiter und so weiter. Die Zerbrechlichkeit und Intimität, die ihre Musik nach wie vor ausmacht, strahlen die Bandmitglieder selbst großzügig aus. Bandfotos sind oft Familienfotos näher als der um avantgardistisch-kunstsinnige Coolness bemühten, gängigen Ikonografie des Indie-Pop: Sie umarmen sich, lehnen dabei versonnen ihre Köpfe aneinander, Romy Madley Croft hat manchmal sogar die Augen geschlossen.

Die Aura, die The xx umgibt, wirkt damit wie eh und je gleichzeitig irrsinnig zeitgenössisch und völlig aus Raum und Zeit gefallen, fast solipsistisch.

Mit dem kleinen Unterschied vielleicht, dass die Band um die eigene Befindlichkeit, um die sie früher bloß herumstand, heute herumtänzelt. Dass ein Ereignis wie etwa die Wahl Donald Trumps diese Band - wie gerade eben U2 - darüber zweifeln lässt, ob ihr Album noch dasselbe sein kann, das sie sich zuvor ausgedacht hatte, scheint ausgeschlossen. Und leider nicht nur deshalb, weil ihnen dafür eine gute Portion Größenwahn fehlt, sondern offenbar auch ein paar Antennen.

Friedlich, bewusstlos-angekommen, geborgen

Aufgenommen wurde das Album während der heißen Phase des amerikanischen Wahlkampfs in Marfa, Texas, einem konservativen Kernstaat. Und dort spielt auch das Video zur ersten Single "On Hold", das eine nette Highschool-Teenie-Tändelei im Siebziger-Retro-Schick geworden ist.

Es gibt Zeiten, da kann bei einem Künstler das Unpolitische politisch sein. Und es gibt Zeiten, da kann das vermeintlich Politische ganz und gar unpolitisch sein. Im Moment ist jedoch, ob man will oder nicht, besonders im Amerika Trumps und angesichts der Erfolge der europäischen Populisten in der Kunst das Politische politisch und das betont Unpolitische einfach nur gedankenlos.

Womit man aber auch vollends auf der nicht mehr ganz so strahlenden Seite dieser Musik angekommen ist. Der Autor dieser Zeilen begegnete dem ersten und bislang auch einzigen Menschen, den er je auf einem Pop-Konzert im Stehen einschlafen sah, auf einem xx-Konzert zum zweiten Album "Coexist" 2013.

Es war irrsinnig voll und eng in der riesigen ausverkauften Münchner Vorstadt-Fabrikhalle. Der junge Mann schien genau dort zu sein, wo einen diese Band mit ihrer Musik hinbugsieren will. Ruhig pendelte er zwischen den Schultern seiner Nachbarn hin und her. Die Szene hatte nichts von dem Prätentiös-Meditativen, wie es Menschen eigen ist, die auf Popkonzerten die Augen schließen, um besser zuhören zu können. Es wirkte vielmehr zutiefst angemessen, friedlich, bewusstlos-angekommen, geborgen.

Die Musik ist auf fast unheimliche Art heimelig

Letztlich ist auch "I See You" auf fast unheimliche Art heimelige Musik, ultimativ geschmackvoll-zeitgenössisch, musikhistorisch extrem informiert, mit einem Ehrfurcht gebietend stilsicheren Gespür für Beats, Sounds, Samples und Melodien, überhaupt für musikalische Proportionen und sachte Vibes aller Art.

Die Schwermut ist gerade so leicht, dass einem der Leichtsinn schwerfällt. Genauso klingt allerdings auch Fahrstuhlmusik für das ewig sorglose Publikum eines hippen großstädtischen Boutique-Hotels, in dem beiläufig feinste Retro-Rennräder an der Wand hängen und man über die Hühner, von denen die Frühstückseier sind, erfährt, dass sie auf einem Bauernhof im ländlichen Umland glücklich frei herumlaufen. Gack, gack.

Mit anderen Worten: Alles ist so perfekt, dass man sich vor der Seichtigkeit der eigenen Träume zu gruseln beginnt. Ein bisschen jedenfalls. Wenn man zu genau hinhört. Vielleicht ist das aber gerade auch ganz richtig so. Besonders, wenn es so gut klingt.

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