Hyperakusis:Macht die Ohren auf!

Belinda Cannone lauscht in ihrem Roman dem "Rauschen und Rumoren der Welt". Damit sind nicht nur Geräusche gemeint. Das schmale Buch ist vor allem auch ein Plädoyer dafür, das Leid der anderen wahrzunehmen.

Von ALEX RÜHLE

Jodel leidet an Hyperakusie. Er hört besser als unsereins, viel besser, jeden Spaziergang in der vermeintlich stillen Natur erlebt er als hochkomplexen Klangwirrwarr, die Vögel ja eh, aber darunter das Brummen in den Ameisenhaufen, der langsame Gang eines Skarabäuskäfers und das tausendfache Blattgefächel.

Jodel lebt lange schon in einem winzigen Weiler, fernab von allem Alltagslärm. Leider muss er in der Stadt arbeiten, als "Ingenieur für Geräuschphysik", bei der Polizei: Stets fährt er im Morgengrauen los, um dem Ohrenmassaker namens Berufsverkehr zu entgehen, und analysiert dann in einem schalldichten Raum Telefonanrufe und andere Aufnahmen, die Stimmen genauso wie die Nebengeräusche: Der Kindsentführer, der auf dem heimlichen Tonmitschnitt zu hören ist, raucht mit Sicherheit seit Jahrzehnten. Im Hintergrund kräht ein Hahn - aber welche Rasse? Und von exakt welchem Motorenmodell stammt das Baumaschinengeräusch an der Peripherie der Aufnahme?

Patrick Süßkind hatte die Idee, seinen Lesern die Welt völlig neu zu zeigen, indem er diese explizit nicht über den Sehsinn beschrieb, sondern sie mithilfe seines monströs monomanischen Geruchsgenies Grenouille immer streng der Nase nach erkundete (Grenouille nimmt seine Augen überhaupt zum ersten Mal im Alter von 14 Jahren "zuhilfe", elektrisiert vom Geruch seines ersten Opfers - und auch dann nur, "um zu glauben, was er roch").

Die Französin Belinda Cannone hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, die Welt zu erhören. Ihr Held Jodel hat einen ähnlich überentwickelten Sinn wie Grenouille. Beiden gemeinsam ist ein großer Ekel vor der ignorant brutalistischen Trampelhaftigkeit der Welt. Während Grenouille aber in autistischem Furor zum Mörder wird, ist Jodel ein sanfter Melancholiker, der versucht, sich einfach möglichst weit an die Ränder, in die Stille zurückzuziehen. Bis er Jeanne trifft, ein Mädchen, das, ohne es zu wissen, ein noch komplexeres Hörvermögen zu haben scheint als er selbst. Jodel wird zu ihrem Lehrer und hilft ihr, das Ohr wie eine akustische Lupe zu gebrauchen, indem sie es immer genauer auf einzelne Geräusche fokussiert, Laute, so fein, dass sie nur noch von der sie umgebenden Stille herauspräpariert zu werden scheinen.

Allein diese sprachlichen Aufmerksamkeitsexerzitien sind bereits die Lektüre wert - noch Tage später horcht man selbst genauer in die Umgebung und kann sich eigentlich nur darüber wundern, wie wenig man meist die Ohren aufmacht (die Definition der Novelle als "unerhörte Begebenheit" bekommt hier eine neue Bedeutung).

Durch die Begegnung mit Jeanne öffnet sich Jodel aber auch selbst wieder der Welt. Er lernt zum einen Jeannes Mutter kennen, eine Komponistin - Sex, beschrieben von einem Hyperakusiker, ist ein wirklich interessanter Lesegenuss ... Vor allem aber trifft er einen seltsamen Außenseiter namens Ulan, einen Mongolen, der am Rand der Stadt in einem Rohbau haust, wo verschiedene Outlaws ein bizarres Soziotop bilden und, wie sich nach und nach herausstellt, einen Rachefeldzug planen.

Das Buch ist von 2009. Sein Plädoyer fürs Zuhören und Mitfühlen aber ist aktuell

Streckenweise wirkt das Personal aus Komponistin, Sonderbegabten und ominösen Weltenwanderern recht orchideenhaft-sonderlingös. Man kann dem kleinen Verlag Edition Converso trotzdem nur danken, dass er die in Tunesien geborene Französin Belinda Cannone mit diesem Buch endlich erstmals nach Deutschland holt. Und man merkt geradezu, welchen Spaß Claudia Steinitz und Tobias Scheffel daran hatten, diesen so eigenen Text im Deutschen nachzubilden.

"Vom Rauschen und Rumoren der Welt" (der französische Titel "Entre les bruits" ist deutlich passender) stammt aus dem Jahr 2009, und die akuten politischen Konflikte sind eindeutig andere als heute. Aber das Gefühl einer sich rapide auflösenden Welt und vor allem das Unbehagen darüber, selbst mehr und mehr in die innere Emigration abzutauchen, sich einfach taubzustellen gegenüber all den permanent einprasselnden Hiobsbotschaften, diese Grundthemen des schmalen Romans wirken sehr aktuell - und geben dem Buch dann seine zweite Bedeutung: "Vom Rauschen und Rumoren der Welt" ist in seiner originellen Form ein angenehm unaufdringliches Plädoyer dafür, die Ohren nicht zu verschließen vor all dem Leid und Lärm oder besser noch: sie so zu öffnen, dass man den infernalischen Krach ummünzt, in Musik, Texte oder, vielleicht am schönsten, in Freundschaftsgesten.

Belinda Cannone: Vom Rauschen und Rumoren der Welt. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz und Tobias Scheffel. Edition Converso, Bad Herrenalb 2020. 256 Seiten, 22 Euro.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: