Süddeutsche Zeitung

Husch Josten: "Eine redliche Lüge":Revolution aus der Zukunft

Husch Josten erzählt in "Eine redliche Lüge", wie aus sozialen Brüchen nach Jahrzehnten Legenden, Romane und Filme werden.

Von Fritz Göttler

Der Traum ist die Realität, heißt es zu Beginn des Buches. Nicht dieses Buches, des Romans von Husch Josten, "Eine redliche Lüge", sondern des Buchs, um das dieser Roman kreist. Eine Parole aus dem Mai 1968, dem Ereignis, das dem 20. Jahrhundert seine Dynamik vermittelte, mit seiner Vorstellung - seinen Träumen - von Widerstand, Rebellion und der Abrechnung mit dunkler, brutaler Vergangenheit. "Der deutsche Franzose" heißt das Buch im Buch. Es war das erste der französischen Erfolgsautorin Margaux Leclerc, und es war ganz anders als all ihre weiteren. Der deutsche Franzose war ihr Onkel Doron Mayer-Dos, eine Mischung aus Jean-Paul Sartre und dem betagten Robert Redford, wie es einmal heißt, ein überzeugter Rebell, eine charismatische Leitfigur für alle Achtundsechziger.

Margaux lebt mit ihrem Mann Philippe in der Domaine de Tourgéville, einem luxuriösen Sommerhaus bei Deauville in der Normandie. Ein intellektuelles, elegantes Paar, gehobener Lifestyle, mehrmals in der Woche laden sie Freunde und Bekannte zum Abendessen ein, dann gibt es exquisite Speisen und erlesene Weine und Diskussionen, nicht immer unbedingt tiefgründig, zu allen anstehenden Themen. Für vier Monate des Sommers 2019 wird die junge Elise - französische Mutter, deutscher Vater - von den beiden als Hausmädchen verpflichtet, sie ist vierundzwanzig, gerade mit dem Studium fertig und wird später im Jahr eine Stelle in einem Verlag in Paris antreten, jetzt aber versucht sie erst mal den Kopf frei zu kriegen durch praktische Arbeit: Putzen, einkaufen, kochen, einen Haushalt am Laufen halten. Die "Geselligkeit" des Paars, typisch französisch, fasziniert Elise, doch haben auch diese beiden ein Geheimnis, eine zerstörerische Diskrepanz. "Wie laut das Schweigen zwischen Philippe und Margaux aufgrund dieser Unterschiedlichkeit sein muss."

Man muss, auch wenn man das Ziel noch nicht kennt, losmarschieren, sagt der Onkel

Elise ist die Erzählerin der Geschichte, eine diskrete Neugier prädestiniert sie dazu, ihre Fähigkeit zuzuhören, den abendlichen Diskussionen zu lauschen, manchmal aus der Küche, während sie den nächsten Gang vorbereitet. Sie wird einschneidende Erfahrungen machen in diesem Sommer - auf den schnell der Stillstand folgen wird, der Lockdown, den die Pandemie im folgenden Jahr über Frankreich und Europa verhängt.

Erst viele Jahre später berichtet Elise von diesem Sommer, da ist sie selbst schon erfolgreich als Schriftstellerin, lebt auf einem Boot, das sie Torus nennt - ein topologisches Objekt, geformt wie ein Rettungsring (oder ein Donut). Husch Jostens Buch ist als eine Zeitkapsel konstruiert, aus der Zukunft, aus der Mitte dieses Jahrhunderts. Elise ist, als sie schreibt, genauso alt, wie Margaux war in dem Jahr, von dem sie schreibt, sechsundfünfzig. Das macht die Spannung dieses Erzählens aus, die eigentümliche Mischung von Nähe und Distanz, von Unmittelbarkeit und Reflexion - eine ältere Frau versucht, den emotionalen und intellektuellen Aufruhr in Worte zu fassen, der sie in der Jugend gepackt hatte - und ganz Europa. Kokett, wenn sie beim Zitieren eines bekannten Spruchs von Dean Martin ein "an den Sie sich sicher vage erinnern" einfügt.

Die Jahrzehnte nach dem Sommer von 2019 bleiben dabei ausgespart, nur die großen - für uns aktuellen - Debatten sind präsent in dem Buch, in den Abendgesellschaften: Antisemitismus, Islamismus und Migration, Populismus und Polizeigewalt, soziale Medien und Verschwörungserzählungen, Terrorismus, das Böse, dazu eine heftige Nostalgie des Revolutionären, "das linke Gegenmilieu, Räucherstäbchen, Guevara-Plakate, antiautoritäre Hängematten, Kommune und Trallala ... Und jetzt auch noch Margaux." Elise beharrt auf dem Streben nach Unabhängigkeit, der Onkel Doron will sie überzeugen, wie wichtig es sei, gemeinsam zu handeln, einer Gruppe anzugehören. Man muss, auch wenn man das Ziel noch nicht kennt, losmarschieren, postuliert er.

Die Domaine ist von außen eine runde Burg, innen exzentrischer Luxus (und erinnert auch an ein Ufo). "Wettergegerbtes Holz, heller Stein, Fachwerk im Obergeschoß, bodentiefe Fenster im Erdgeschoss, rotbraune Terrakotta-Schindeln auf dem Dach." In der Mitte ein Swimmingpool, nach oben offen, in dessen Mitte ein Turm mit Wendeltreppe, man könnte hier von einem Donutpool sprechen. Die Bereiche gehen ohne Wände ineinander über. Wie einer der romantischen Paläste, die im neunzehnten Jahrhundert, in England vorwiegend, reiche Bürger und Aristokraten in ihren Parks errichteten. Die Domaine gibt es wirklich, sie war das Haus des Filmemachers Claude Lelouch, Husch Josten dankt ihm in einer Nachbemerkung, dass er es ihr öffnete. Wie aus einem Lelouch-Film scheint auch das tragisch-absurde Geschehen, das Margaux und Philippe verbindet, zwei Aufsteiger in einer Zeit, in der Frankreich seine Identität neu formiert - auch Husch Josten mischt hier derbes Melodram mit traumhafter Raffinesse.

Die Spirale von Traum und Realität führt auch im Buch direkt zum Kino. Man will aus Margaux' erstem Buch einen Film machen, zu diesem Zweck werden auch mal illustre Gäste geladen, darunter der Schauspieler Ocean Green, Oscarpreisträger, der für die Rolle von Doron vorgesehen ist. Die Debatte lässt ahnen, und Elise bestätigt es explizit: So entstehen Oscar-Anwärter.

Die Nächte in der Domaine mit ihrer Debattenkultur können nicht kaschieren, wie hart die sozialen Brüche in der französischen Gesellschaft sind. Allein der deutsche Franzose Doron ist eine Figur der Vermittlung und Versöhnung: "er hatte jedem Einzelnen das Gefühl gegeben, gemeint, gefragt, wichtig zu sein, und, als er abgereist war, jeden auf sich zurückgeworfen, auf unser gewohntes Nebeneinander, auf das unbefriedigende Feld kreisrunden Denkens, der Eindimensionalität und des bequemen Schweigens."

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