Hundertjährige:"Ich habe nie ein anderes Mädchen geküsst"

Bevor Hundertjährige nichts Besonderes mehr sind, erzählt der Bildband 100 Jahre Leben noch einmal von der Würde des Alters.

J. Schloemann

4 Bilder

100 Jahre Leben

Quelle: SZ

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Bevor Hundertjährige nichts Besonderes mehr sind und sich in enge Jeans quetschen, erzählt der Bildband 100 Jahre Leben noch einmal von der alten Würde des Alters. In Bildern.

Mit der Würde des Alters ist es bald vorbei. Diese Behauptung ist etwas grob, aber für sie gibt es folgende Gründe.

Erstens schwindet die besondere Würde des Alters, weil immer mehr Menschen das Altsein miteinander gemein haben. Alt und einigermaßen beieinander, das gibt es überall und ist nicht mehr spezieller Verehrung wert. Zweitens gibt es immer mehr Alte, die selbst ihre Würde abgeben, weil sie dem Junggeblieben-Imperativ der Popkultur folgen und sich deshalb in enge Jeans quetschen oder an einer Senioren-Topless-Disco im Seniorenstrandparadies teilnehmen.

Und drittens haben die nachwachsenden Alten keine historische Aura: Sie haben nicht mehr an den großen Erschütterungen des 20. Jahrhunderts teilgenommen. Sie sind nicht mehr Zeitzeugen, die viel durchgemacht haben, sondern Kinder des Friedens und des Wohlstands: Der Jahrgang 1945 erreicht in diesem Jahr das Rentenalter von fünfundsechzig.

Mary Splettstoesser/Foto: Andreas Labes

Alle Fotos stammen aus dem besprochenen Bildband

Text: Johan Schloemann/SZ vom 28.4.2010/sueddeutsche.de/nvm/rus

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Quelle: SZ

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Bevor aber die medizinische und demographische Entwicklung es dahin bringen, dass hundert Jahre alt zu sein nichts Auffälliges mehr ist, erzählt jetzt der Bildband "100 Jahre Leben" noch einmal von der alten Würde des Alters.

Noch sind es weniger als 10 000 Menschen in Deutschland, die hundert oder älter sind. Einhundert dieser Hundertjährigen hat der Fotograf Andreas Labes porträtiert. Hervorgegangen sind die eindrucksvollen Bilder, die wie die beigefügten Kurzbiographien teils tröstlich, teils erschreckend sind, aus einem Forschungsprojekt des Kieler Alters-Biologen Stefan Schreiber, der das Buch auch herausgegeben hat (100 Jahre Leben. Porträts und Einsichten. DVA, München 2010, 181 Seiten, 29,95 Euro).

Peter Hodes/Foto: Andreas Labes

100 Jahre Leben

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Die Fotos rufen Assoziationen mit der wechselnden Motivik von Vanitas und Weisheit auf, die die Kunstgeschichte des Alters bereithält. Finden wir nun in diesen oft schonungslos vorgeführten Gesichtern, denen immer ein Foto aus jungen Jahren gegenübergestellt ist, wirklich "Spuren unseres kollektiven Gedächtnisses", wie der Herausgeber behauptet? Das ist vielleicht angesichts der Individualität von Lebens- und Zeiterfahrungen, die das Buch vorführt, schon zu viel gesagt.

Aber natürlich spiegelt sich in der Erinnerung der gut zehn Jahre vor dem Ersten Weltkrieg Geborenen viel Epochales. Das Epochale aber entfaltet immer nur seine volle Kraft, wenn es sich mit dem Persönlichen verbindet. Etwa so: "Wir hatten nur zehn gemeinsame Jahre. Dann hat uns der Krieg auseinandergerissen." Oder eine alleinstehende Frau, die lakonisch bilanziert: "Männer waren einfach knapp nach dem Krieg."

Emilie Boening/Foto: Andreas Labes

100 Jahre Leben

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Es ist eine Generation voller Neuanfänge. Wir hören Geschichten vom Krieg und vom Lichterfelder Turnverein, vom Verlust der Heimat und von der Heimat im Friseursalon. Da ist der einstige Ausstatter am Berliner Friedrichstadtpalast, der Gustaf Gründgens einkleidete, da ist der Schlosser, der zufällig Karl Marx heißt und daher von der DDR-Grenzpolizei "nie schlecht behandelt" wurde, und da ist die Hausfrau, die gar nichts Exotisches zu berichten hat.

Natürlich ist es sehr rührend, wenn ein hundertjähriger Mann über seine verstorbene Frau sagt: "Ich habe nie ein anderes Mädchen geküsst." Manchmal aber fragt man sich: Warum finden wir eigentlich noch die banalsten Erinnerungen bewegend, wenn sie aus dem Mund eines sehr alten Menschen kommen? Wird sich das ändern, wenn das Alter in der Gesellschaft gewöhnlicher wird?

Buchcover/Foto: Andreas Labes

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