"Human Flowers of Flesh" im Kino:Wir brauchen Sonne und Weite

"Human Flowers of Flesh" im Kino: Auf zum neuen Sehen: Ida (Angeliki Papoulia) und ihre Crew in "Human Flowers of Flesh".

Auf zum neuen Sehen: Ida (Angeliki Papoulia) und ihre Crew in "Human Flowers of Flesh".

(Foto: Grandfilm)

Helena Wittmanns Film "Human Flowers of Flesh" ist eine magische Erkundung des Mythos der Fremdenlegion, die tief in die Geschichte des Kinos führt.

Von Fritz Göttler

Am Ende fällt eins der Eier zu Boden und zerbricht. Galoup nahm sie aus dem Kühlschrank, er wollte Rührei machen, fing an mit ihnen zu jonglieren. Man zuckt zusammen bei diesem Platsch, er bringt ein Moment von Unwiederbringlichkeit in diesen Film, in dieses Abenteuer, das so ganz vom Meer bestimmt ist. Man kennt Galoup aus "Beau travail", dem legendären Fremdenlegionärsfilm von Claire Denis, 1999. Er wird verkörpert von Denis Lavant, der einer der "Liebenden von Pont-Neuf" war und in vielen Filmen von Leos Carax spielte.

Ein vielfach schillernder Abenteuerfilm, von einer Frau erzählt, der deutschen Filmkünstlerin Helena Wittmann, mit einer Frau als Heldin. Die heißt Ida und wird verkörpert von Angeliki Papoulia, die in drei Filmen von Giorgos Lanthimos spielte, "Alpen", "Dogtooth" und "The Lobster". Ida hat ein Segelschiff und fünf Mann Besatzung. "Man weiß nicht viel über sie", heißt es anfangs von ihr. "So ein Leben bedeutet Freiheit. Man ist immer in Bewegung."

Das Schaukeln auf dem Wasser des Mittelmeers gibt die Bewegung vor

Die Freiheit der Bewegung, Bewegung der Freiheit ... Ida hat eine schöne Lässigkeit, Durchlässigkeit, sagt Helena Wittmann. Das Boot liegt anfangs in einer Bucht vor Marseille, es heißt Don de Vent, Gabe des Winds. Wenn es sich dann in Bewegung setzt, geht es nach Korsika, dann weiter nach Algerien, nach Sidi bel Abbès, wo die französische Fremdenlegion viele Jahre ihren Standort, ihr Lager, eine eigene kleine Stadt hatte.

Ida ist fasziniert von diesem Mythos, wie auch die Filmemacherin Helena Wittmann, aber ihre Fahrt ist kein konzentrierter, gar politischer Forschungstrip, nur eine sanfte Annäherung. Das Schaukeln auf dem Wasser des Mittelmeers gibt die Bewegung vor, die Crew des Films lebte beim Dreh gemeinsam auf dem Boot.

Der Wechsel zwischen Distanz und Immersion steht am Ursprung des Kinos, zwischen Außen und Innen, festgefügter Perspektive und Introspektion. "Diese Männer schienen etwas zu verdecken, zu verheimlichen", erzählt Helena Wittmann im Gespräch mit Patrick Holzapfel von ersten Begegnungen mit Fremdenlegionären. "Sie waren nicht erreichbar für mich. Ich konnte sie nur betrachten. Ich versuchte, Augenkontakt herzustellen, aber sie wichen mir aus ... Aufgrund dieser einseitigen Blicke und des Fehlens jedweder Interaktion reduzierte sich ihr Erscheinen auf ihre Körper."

Mehr Präsenz als die Körper hat das Lied der Legionäre, das man im Off hört, gleichmütig hallt es nach, wie aus dem Jenseits, einer kaum noch erinnerten Vergangenheit. "Adieu, gutes altes Europa, möge der Teufel dich holen. Sei gegrüßt, weiße Sonne Algeriens ... Die Wüste ist für uns wie das Meer für die Matrosen ... Wir brauchen Sonne und Weite, um uns neuen Glanz zu verleihen ... Wir, die Verdammten dieser Erde ... Wir vergessen nie und nimmer ein Unheil, eine Schande, eine Frau, die wir geliebt ..."

Die Männer an Bord sind aus Portugal, Brasilien, Deutschland, Serbien, Algerien. Eine echte Crew, es gibt hier keine festgefügte Ordnung, keine Dominanz. Sie bügeln, hantieren subtil an Ventilen oder mit getrockneten Pflanzen, lesen sich Briefe vor und übersetzen sie, lesen aus Büchern, "Gourrama", Friedrich Glausers Roman aus der Fremdenlegion, oder "Der Matrose von Gibraltar" von Marguerite Duras.

Ein neues Sehen lernt man in diesem filmischen Abenteuer, man muss nur die festen Konturen auflösen, die Gewissheiten und Definitionen, die Grenzen zwischen dem Animalischen, Vegetativen, Mineralischen. Eine lange Einstellung bewegt sich unter Wasser langsam durchs Blau, ganz allmählich kristallisiert sich der Umriss eines Flugzeugwracks heraus, seine Oberfläche ist verkrustet, hat eine ganze eigene Struktur.

Später gibt es Szenen als Cyanotypie, ein altes fotografisches und filmisches Verfahren mit Blautönen - der Film ist auch eine Exkursion in die Frühzeit des Kinos. Dazu gehört auch die Erzählung von der Entstehung der Korallen. Da werden Pflanzen unter Wasser gesammelt, auf die das Haupt der Medusa gebettet werden soll, deren Stengel absorbieren das Blut und verhärten sich, und erstarren vollkommen.

Human Flowers of Flesh, 2022 - Regie, Buch, Kamera, Schnitt: Helena Wittmann. Komposition und Tongestaltung: Nika Son. Mit: Angeliki Papoulia, Vladimir Vulevic, Ferhat Mouhali, Gustavo de Mattos Jahn, Mauro Soares, Steffen Danek, Ingo Martens, Nina Villanova, Denis Lavant. Grandfilm, 106 Minuten. Kinostart: 2. Februar 2023.

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