Houellebecq: "La Carte et le Territoire":Vom Glück der Playmobilfiguren

In seinem neuem Roman wird Michel Houellebecq selbst in einem französischen Landhaus ermordet. "La Carte et le Territoire" ist Selbstbespiegelung auf höchstem Niveau - sein bislang bester Roman.

Joseph Hanimann

Die Innenklappe des Buchs führt nach französischer Sitte die Werkliste des Autors auf und nennt munter Neuerscheinungen bis in die letzten Jahre. In Wirklichkeit hat Michel Houellebecq seit seinem Flop Die Möglichkeit einer Insel 2005 nichts Bedeutsames mehr publiziert. Umso größer war die Erwartung seit der Ankündigung seines neuen Romans. Gefuchtel eines ausgelaugten Stars, wie Kollege Tahar Ben Jelloun schon in die Runde spottete, oder Rückkehr eines wirklichen Autors?

Plagiat-Vorwürfe gegen Michel Houellebecq

Ein Schriftsteller auf der Höhe seiner Kunst: In Frankreich erscheint Michel Houellebecqs neuer Roman "La Carte et le Territoire" - Houellebecq selbst kommt in seinem Buch zu Tode.

(Foto: dpa)

Das letztere, eindeutig. La Carte et le Territoire (Flammarion) ist ein großer Wurf, sein bisher bester Roman. Michel Houellebecq hat Stoffe, er hat eine unverwechselbare Sicht auf die Welt, er hat einen Stil, und in diesem Buch beweist er zum ersten Mal auch kompositorisches Geschick. Wohl geistert das eigene Ich auch in diesem Roman durchs Geschehen. Wo die erste Person aber sonst meistens die Welt in sich aufsaugt und kleinkaut, sprengt sie sich hier in den Horizont eines Künstlerromans.

Der Schriftsteller Michel Houellebecq tritt darin als Nebenfigur und zugleich als Hauptmotiv des Malers Jed Martin auf, trinkt einsam in seinem irischen Bungalow Unmengen argentinischen Rotweins, schwärmt von Tocqueville und den Frühsozialisten, lernt vorzüglichen Pot-au-feu kochen, tritt insgeheim in die katholische Kirche ein und wird in seinem französischen Landhaus schließlich ermordet.

Diese literarische Selbstbespiegelung funktioniert im Roman mit zwei Nebenfiguren. Zur Linken agiert der Künstler Jed Martin, der mit seinem Bild "Michel Houellebecq, écrivain" - Marktwert: zwölf Millionen Euro - endgültig zum Star wird. Zur Rechten steht der Polizeikommissar Jasselin, der den Mord am Schriftsteller aufklären muss. Aus dieser Dreierkonstellation ergibt sich ein verwinkeltes Panorama zur Situation der Kunst, zum Kunstbetrieb, zu unserer Sehnsucht nach authentischen Werten und zum Weltgefühl nach der x-ten Finanzkrise um 2015, als Credit Suisse und die Royal Bank of Scotland Konkurs machen und sich in Europa die Gewissheit festsetzt, dass der Kapitalismus endgültig vor dem Kollaps steht.

Hinter der Provokation verbirgt sich der Traum

Über dieses Panorama spannt sich eine sanfte Melancholie: Die Ahnungen und Pläne einer gelungeneren Welt müssten alt sein, bevor sie reifen, sagt sie. Hinter der Maske des Provokateurs war Houellebecq immer schon ein Träumer. Durchlöchert wird diese Melancholie durch schräge Situationen und sarkastische Apropos. "Die Moderne war vielleicht ein Irrtum", geht es dem Maler Jed Martin durch den Kopf, während er bei der Zeugenaufnahme nach Michel Houellebecqs Tod im Pariser Polizeipräsidium über die Seine auf die schöne Kuppel des Institut de France blickt. Picasso? - hatte der Schriftsteller ihm einmal gesagt: ein Hochstapler, der für die Malerei nichts gebracht habe, kein besonderes Licht, kein neuer Umgang mit Farben, nur Hässlichkeit, Schwachsinn und Geschmiere in Dauererregung für Sechzigjährige mit dickem Bankkonto.

Gemildert werden solch rhetorische Eruptionen von schönen Figuren, vorab von Frauen. Und mitunter zoomt der Roman auf zum bekannten Fernblick aus biologischen Weltzyklen, in denen die gemeine Hausfliege, die Musca domestica, um totes Fleisch kreist und bis zu tausend Eier auf einmal legt, gleichgültig, ob es sich dabei um die Leiche Michel Houellebecqs handelt oder wessen auch immer.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum dieser Roman sein bislang bester ist.

Der Provokateur als Visionär

Wo im reichen Stoffvorrat und in der Fülle der literarischen Anspielungen bei den früheren Romanen immerfort etwas kompositorisch wackelte, dort etwas überhing oder thesenhaft ächzte, ergibt sich hier in der scheinbaren Geradlinigkeit des Erzählens souverän ein Detail aus dem anderen. Leitmotiv ist dabei ein gelegentliches Knacken im Heißwasserboiler von Jed Martins Pariser Atelierwohnung, das den Bewohner panisch aufhorchen lässt. Jed ist ein Star und ein Einzelgänger, den praktischen Dingen des Lebens nur entfernt zugetan, nicht unähnlich dem Autor Houellebecq, nur jünger. Berühmt geworden ist er mit einer Werkserie, die abfotografierte Michelin-Straßenkarten dem realen Territorium gegenüberstellt, daher der Romantitel.

Der Kunstbetrieb in seinem ganzen Wahnsinn

Ausgelöst wurde Jeds Berühmtheit durch die junge Russin Olga, verantwortlich für Öffentlichkeitsarbeit bei Michelin und bekannt als "die schönste Frau von Paris". Mit ihr hatte Jed - zur Verblüffung des Pariser Starintellektuellen Frédéric Beigbeder - eine Glücksromanze durchlebt und verlebt. Denn Glück, so Houellebecq, ist auf dieser Welt möglich, aber meistens eben nur dies: möglich.

Dem Autor gelingt in diesem Buch das Unwahrscheinliche, den zeitgenössischen Kunst- und Marktbetrieb, den keine Finanzkrise zu bremsen vermag, in seinem ganzen Wahnsinn zu zeigen und doch nie in die Karikatur verfallen. Hinter aller Groteske der Rituale, Diskurse und Verkaufszahlen steht immer ein Kern Authentizität.

Jed reibt sich auf zwischen den Schaffensperioden. Das Doppelporträt "Damien Hirst und Jeff Koons teilen sich den Kunstmarkt auf" will ihm zum Beispiel partout nicht gelingen. Den brutal zynischen Ausdruck von Hirst hat er ziemlich problemlos gemeistert. Mit Koons' Ambivalenz zwischen Exaltiertheit und Askese kommt er hingegen nicht klar. Schließlich zerstört er das Bild in einem Anfall von Verzweiflungsekstase. Statt seiner wird das Porträt "Michel Houellebecq, écrivain" die Werkserie beschließen. Jed entlohnt damit den Schriftsteller für einen Beitrag im Ausstellungskatalog. Dreimal muss er dafür den berühmten Autor besuchen. Die drei Selbstinszenierungen Houellebecqs - eine witzig-schräge und eine versoffene in Irland, eine mit der Welt fast versöhnte im Haus seiner Kindheit in Zentralfrankreich - gehören zu den Höhepunkten des Romans.

Nie hat der als Querulant, Provokateur und Reaktionär verschriene Autor im Spiegelbild eines Romans sich so offen in die Karten blicken lassen. In Houellebecqs Haus im Département Loiret, wo ein wärmendes Kaminfeuer knistert, entdeckt der Besucher Jed Martin in der Bibliothek auffallend viele Frühsozialisten: Proudhon, Fourier, Saint-Simon, Owen, Carlyle, Marx. Mit der "Welt als Narration", der Welt des Romans und des Films, habe er abgeschlossen, erklärt ihm der Schriftsteller, er interessiere sich nur noch für die Welt der "juxtaposition", der Zusammenfügung in Poesie und Malerei.

Gerade habe er ein Gedicht über die Vögel schreiben wollen. Allerdings sei aus diesem sinnlosen Herumgehüpfe kleiner Farbtupfer nichts herauszuholen. Stattdessen habe er ein Gedicht über seinen Hund Platon verfasst, denn "Hunde haben immerhin schon so etwas wie ein individuelles Schicksal und eine Vorstellung von Welt, selbst wenn ihre Dramen, für Geschichte und Erzählung unzugänglich, undifferenziert bleiben". Dieses Gedicht über Platon werde vielleicht sein letztes Werk sein, schließt der Schriftsteller. Dass er bald schon zusammen mit seinem Hund in seinem Haus grausam verstümmelt aufgefunden werden wird, ahnt er zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht.

Hauptsache es gab sie

Auch dieses drastische Ende wird im Roman aufgefangen vom abgeklärten Blick auf das Altern und Vergehen aller Dinge. Dass das Kinderglück des kleinen Michel nicht dauerhaft war, dass die Liebe zwischen Jed und Olga nicht zur Entfaltung kam, dass die Sozial- und Sexualutopien Fouriers nicht Wirklichkeit wurden, so möchte man Houellebecqs Ausführungen bei Houellebecq deuten, ist nicht schlimm. Hauptsache, es gab sie.

Eine Verkörperung dieser Einstellung ist im Roman Jeds Vater, Jean-Pierre Martin. Er ist Architekt, hat sein Leben lang sehr erfolgreich Strandhotels gebaut und stiehlt sich dann mit seinem Darmkrebs im Zürcher Sterbeinstitut Dignitas diskret aus der Existenz. Auch er hatte in jungen Jahren von anderen Lebensformen geträumt. Im Nachlass findet Jed Kartonschachteln mit Plänen, die keinen Häusern, sondern eher neuronalen Netzen ähnlich sehen. Doch hatte der Vater sich damit gegen den Funktionalismus der Epigonen Le Corbusiers nicht durchsetzen können. Schon als Kind habe er den Schwalben Nester gebaut, die diese aber hartnäckig verschmähten, erzählt er an einem Weihnachtsabend unter plötzlichen Tränen seinem Sohn. Der Präraphaelit William Morris mit seinem Ideal der Einheit von Kunst und Handwerk war seine Lieblingsfigur.

William Morris? - fragte Michel Houellebecq bei seiner letzten Begegnung mit Jed am Kaminfeuer interessiert zurück. "Man liest dieses abstruse Zeug heute mit einer Mischung aus Rührung und Überdruss, und dennoch..." Im Ungesagten dieser drei Pünktchen liegt eine Grundaussage des Romans und wohl auch des Autors. Die Welt hat bei allem Sarkasmus ihre Visionen nie ausgeträumt. Im Epilog kehrt dieser Gedanke als Bildvision noch einmal wieder. Jed lebt zurückgezogen auf dem Land. Wir befinden uns in den dreißiger Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Die französischen Dörfer haben sich neu belebt, Schenken mit regionalen Köstlichkeiten werden von chinesischen Aussteigern geführt. Frankreich hat sich auf sympathische Weise abgeschafft, indem es seine Stereotypen vermarktet, ganz Europa ist eine Mischung aus Freilichtmuseum und Emscher Park. Jed Martin fotografiert im Freien verwitterte Playmobilfiguren ab. Der Autor Michel Houellebecq hingegen ist mit diesem Roman gerade auf dem Höhepunkt seiner Reife angelangt.

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