Süddeutsche Zeitung

"Hort": Graphic Novel von Marjipol:Ein warmes Schlangennest

Die Hamburger Zeichnerin Marjipol lotet in ihrem Comic "Hort" die Grenzen der Body Positivity aus.

Von Martina Knoben

Schon der Einband des Comics irritiert - ein dezent eingestanztes Schuppenmuster vermittelt das Gefühl, eine Schlangenhaut zu berühren. Das Unbehagen passt zur Geschichte dreier Frauen Ende dreißig, die zusammen in einer WG leben und alle sehr besonders sind: Petra ist Bodybuilderin und ein Muskelberg, Ulla eine sehr dicke Riesin, und Denise hat ihren Körper zur Schlangenfrau modifiziert, ein Bein und einen Arm durch einen Schlangenkörper ersetzt, an dessen Ende sich keine Hand, sondern ein Schlangenkopf mit Giftzähnen befindet.

Solcher Körperhorror erinnert an Filme von David Cronenberg. Wo es um Zwitter, Gestaltwandler, Supermänner oder -frauen geht, ist aber auch der Comic ganz bei sich. Die Hamburger Zeichnerin Marie Pohl alias Marijpol hatte schon mit "Trommelfels" (2011) und "Eremit" (2013) ihre Faszination für bizarre Figuren bewiesen, die - wie der Eremit mit gespaltenem Kopf - ihr Innerstes nach außen kehren. Auch in "Hort" provoziert sie mit Bildern, die so faszinierend wie unheimlich sind. Manche Figuren haben Fell im Gesicht oder Noppen auf dem Kopf. Man sieht den seltsamen Wesen das Vergnügen, das Marjipol beim Zeichnen gehabt haben muss und ihre Zuneigung zu den Figuren an.

Jede der drei WG-Frauen ist einsam, aber alle drei sind auch so selbstbewusst, dass sie sich nicht als traurige Freaks fühlen. Sie gehen liebevoll und fürsorglich miteinander um - die WG ist ein warmes Nest. Grotesk-komisch und rührend sind die Momente, in denen die Frauen einander bei Alltagsdingen helfen: Wenn etwa Petra ihren Körper für einen Bodybuilder-Wettkampf präpariert und Denise ihr mit dem Schlangenkopf künstliche Brüste aufklebt (vorsichtshalber mit Maulkorb). Ein Hoch auf die Sisterhood!

Ich bin okay, du bist okay - gilt das auch für Schlangenfrauen?

Marijpol hat ihren Comic in zarten Lilatönen gezeichnet, ein zarter Hinweis darauf, dass er sich als "queer" und feministisch lesen lässt. Zudem drehen sich die Konflikte vor allem um Vorstellungen von Weiblichkeit. Als die drei Frauen drei verwahrloste Kinder aus der Nachbarschaft kennenlernen, sind sie zuerst befangen, fühlen sie sich dann irgendwie zuständig und genießen schließlich das Ersatzmuttersein. Sehnsüchte tauchen auf. Aber wie ließe sich die Verantwortung für ein Kind mit dem krassen Individualismus der drei vereinbaren?

Das alles ist einerseits so seltsam, so weird, dass selbst gutwillige Leserinnen ihre Toleranz gegenüber diversen Identitäten womöglich überdenken. Würde man sich von Denise berühren lassen, die als Yogalehrerin mit ihrem Schlangenarm die Haltung von Schülerinnen korrigiert? In dieser körperpositiven Zeit, die so vieles eingemeindet und domestiziert, tut es gut, Fremdes wieder als unheimlich zu erleben. Mancher Reiz braucht die Distanz. Zudem hat das offensive Wohlwollen vieler gender- und körpertypischer Menschen gegenüber den "anderen" immer auch etwas Paternalistisches.

Die Supermonsterfrauen in "Hort" sind bei aller weirdness so rührend lieb, dass man sie einfach mögen muss - die Spannung zwischen Abscheu und Sympathie macht das Buch interessiert. Diese Spannung wird nicht durch Identitätsdebatten oder andere Deutungskämpfe aufgelöst, stattdessen gibt es einen freundlichen Pragmatismus: der einer Giftschlange schon mal einen Maulkorb verpasst oder einen Schlangenhort als Kita akzeptiert.

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