Süddeutsche Zeitung

Homophobie und Kunst in Russland:Hier werdet ihr nicht glücklich, Jungs

Tschaikowski zum braven Familienmenschen umgedichtet, das Ballett als Bühne für starke Kerle: Das neue homophobe Gesetz in Russland schafft neue Wahrheiten. Die Künstler im Land schweigen aus Angst.

Von Tim Neshitov

"Stell Dir vor", schrieb Pjotr Iljitsch Tschaikowski am 28. September 1876 seinem jüngeren Bruder Modest. "Ich bin die Tage sogar aufs Land gefahren, zu Bulatow, dessen Haus nichts anderes ist als ein päderastisches Bordell. Es reicht aber nicht, dass ich dort war - ich habe mich wie eine Katze verliebt in seinen Kutscher!!! Also hast Du völlig recht, wenn Du schreibst, dass man den eigenen Schwächen nicht standhalten kann, allen Schwüren zum Trotz."

Dieser Brief wurde in der Sowjetunion jahrzehntelang unter Verschluss gehalten, wie auch 247 weitere Briefe, die auf Tschaikowskis Homosexualität schließen lassen. Der Kreml feierte ungern schwule Klassiker. Erst 1995 verschafften sich Musikwissenschaftler Zugang zum unzensierten Briefwechsel der Tschaikowski-Brüder, und das interessierte Publikum weiß seitdem einiges über das Intimleben des Genies. Womöglich mehr, als es manchem "Nussknacker"-Fan lieb ist, und gewiss mehr, als es Tschaikowski selbst je lieb gewesen wäre.

Aber die Kutscher- (Kellner-, Badegehilfe-) Geschichten kennt en détail eben nur das interessierte Publikum, Menschen, die musikwissenschaftliche Aufsätze lesen. Das breite Publikum in Russland kennt die Geschichten nur gerüchteweise. Aber wenn es nach dem Kulturministerium in Moskau ginge, sollen die Russen nicht etwa ihre Wissenslücken schließen, indem sie wissenschaftliche Aufsätze lesen. Die Russen sollen weiter an einen Familienmenschen Pjotr Iljitsch Tschaikowski glauben. An einen genialen Komponisten, der etwas unglücklich war, klar, wie jedes Genie, innerlich zerrissen, so ein bisschen exaltiert. Der aber Frauen liebte, in dezent überschaubarer Zahl, und der von Frauen geliebt wurde.

Das Kulturministerium fördert gerade einen Film über Tschaikowski, dessen Drehbuch ausgesprochen wenig mit Tschaikowskis Biografie zu tun hat.

Die Geschichte geht so: Der noch unbekannte Tschaikowski liebt eine grazile Ballerina, die Ballerina glaubt an sein Talent. Sie wollen heiraten. Auf einem Ball begegnet Tschaikowski seiner alten Liebe Katja, die hatte er verlassen, als er noch ein armer Student war. Ein Wirbel der Gefühle, Tschaikowski will seine Katja zurück. Die ist jedoch bereits mit einem Grafen verheiratet, zum Glück unglücklich. Katja kann sich nicht scheiden lassen, aber sie unterstützt Tschaikowski nach Kräften, organisiert für ihn Konzerte auf den größten Bühnen. Tschaikowski wird endlich berühmt, Katja kann sich scheiden lassen, sie heiraten. Das Glück währt aber nicht lange, denn Tschaikowski stirbt. An Cholera, selbstverständlich in Katjas Armen.

Nun. Tschaikowski war in der Tat mal verheiratet, er vermählte sich - kurz nach seinem Besuch im päderastischen Bordell auf dem Land - mit einer unmusikalischen und dünnlippigen Dame, die er nur flüchtig kannte und nicht einmal hübsch fand. Er wollte seinem Vater einen Gefallen tun. Wenige Wochen später floh Tschaikowski vor seiner Gattin auf ein Gut in der Ukraine. Die abgrundtiefe Verzweiflung, der Ekel sind in seinen Briefen gut dokumentiert: "Mein weiteres Schicksal in der Ehe erschien mir wie irgendein elendes Dahinsiechen, wie eine unerträgliche, schwere Komödie."

Wozu also das ganze cineastische Familienglück mit süßsauerem Ausgang?

Der Drehbuchautor, Yurij Arabow, erhebt keinen Anspruch auf historische Wahrheit. Wenn man das Leben eines Klassikers verfilme, sagte er der Zeitung Iswestija, solle man doch nur jene Fakten heranziehen, die "in unsere Zeit hineinpassen".

"Es ist ja keine Tatsache, dass Tschaikowski homosexuell war", sagt Arabow. "So etwas denken nur Spießbürger. Das, woran Spießbürger glauben, sollte man nicht im Kino zeigen." Deswegen: "Ich habe versucht, ein Drehbuch zu schreiben, das etwas über mich aussagt, etwas über Kirill, etwas über unsere gemeinsamen Bekannten. Und etwas auch über Tschaikowski, natürlich."

Mit Kirill ist der Regisseur Kirill Serebrennikow gemeint. Der ist nicht irgendjemand, sondern einer der erfolgreichsten Theater- und Filmregisseure Russlands, man wäre also grundsätzlich nicht abgeneigt, mehr über ihn zu erfahren. Auch über Yurij Arabow erführe man gerne mehr, schließlich hat er die Drehbücher für fast alle Filme von Alexander Sokurow geschrieben, dem Fachmann für historische Porträts. "Faust", Sokurows jüngster Film, bekam den Goldenen Löwen 2011.

Aber müssen diese Cineasten sich selbst verewigen, auf welche Art auch immer, indem sie einen Film drehen mit dem Titel: "Tschaikowski"? Wahrscheinlich wird der Film nicht mehr über Arabow und Serebrennikow aussagen, als dass sie, erstens mal zusammen einen Film machen wollten. Zweitens Geld brauchten. Drittens bereit waren, Geld anzunehmen von einem Staat, der Hetze gegen Homosexuelle zu einem zivilisatorischen Projekt erklärt hat.

An sich sind Drehbuchautor und Regisseur überhaupt keine homophoben Zeitgenossen. Serebrennikow hat kürzlich Teenagern, die feststellen, dass sie schwul sind, voller Empathie empfohlen: "Jungs, verlasst lieber möglichst schnell Russland. Hier werdet ihr nicht glücklich." Arabow sagt, er habe schwule Freunde. Kunst sei aber halt keine geeignete "Sphäre", um über Homosexualität nachzudenken.

Also: Schwulsein geht grundsätzlich in Ordnung. Aber gegen Putins Antischwulenpropagandagesetz sagen wir nichts. Denn wir sind Künstler. Höhere Sphären.

Das ist eine Aussage, die Homosexuelle in Russland mehr beunruhigen sollte als die jüngste Negligé-Nummer in Sankt Petersburg. An diesem Donnerstag fängt ja dort der G-20-Gipfel an, Obama kommt, Merkel kommt, es geht um Syrien, vergaste Kinder, und eine Gruppe Politkünstler hat sich ein malerisches Begleitprogramm überlegt, eine Ausstellung mit dem Titel "Herrscher". Eines der Bilder zeigte Präsident Putin im Negligé mit Regierungschef Dmitrij Medwedjew in Reizwäsche. Abteilung couragierte Satire. Das Negligé-Bild wurde beschlagnahmt, noch bevor all die Herrscher in Petersburg landen konnten, die Museumsdirektorin wurde festgenommen, vernommen, freigelassen.

Politkunst, deren gesellschaftliche Relevanz maßgeblich davon abhängt, wie oft ein Künstler oder Kurator festgenommen wird, hat es unter Wladimir Putin von Anfang an gegeben. Dass diese Kunstszene nun auch auf das homophobe Gesetz reagiert, mit üblicher Kreativität und üblichen Konsequenzen, ist so tapfer wie erwartbar. Weniger zu erwarten war, dass Künstler wie Arabow ihr Talent im Bordell der Politik feilbieten und gleichzeitig als gesittete Familienmenschen gelten wollen.

Das Gesetz ist zwar gegen Homosexuelle gerichtet, zersetzt aber auch heterosexuelle Seelen.

Nun zum Ballett, einem wichtigen Barometer. Ballett ist die einzige Kunstsparte, in der Homosexualität atmosphärisch wie eine Urgewalt gefeiert werden kann, ohne dass irgendein Würdenträger auf die Idee käme, zwei sich umkreisende Männer in engen Hosen als postmodernen Sittenverfall anzuprangern. Klassisches Ballett ist ziemlich das Klassischste, was es gibt.

Natürlich denkt man bei Ballett an Rudolf Nurejew, an seine Liebe zum dänischen Kollegen Erik Bruhn, an diese zarten, holprigen Briefe: "Du bist das Wesentliche, der Brennpunkt meiner ganzen Welt, nimm mein Leben, wenn Du willst, Du, der Du mir so lieb und teuer bist, dass ich nicht weiß, was ich Dir sonst noch anbieten kann." Und natürlich erwartet man, dass sich schwule Tänzer von heute zu dem Anti-Schwulen-Gesetz äußern.

Aber es äußert sich keiner. Weder gegenüber Journalisten, noch gegenüber Kollegen.

Im Mai war Sasha Waltz mit einigen ihrer Tänzer in Sankt Petersburg, sie inszenierten gemeinsam mit dem Mariinskij-Theater "Le Sacre du Printemps". Auf Anfrage teilen die Berliner nun mit: "Als wir in Petersburg waren, haben wir versucht, mit den Tänzern darüber zu sprechen. Aber das Thema bleibt vollkommen tabu. In der ganzen Compagnie gibt es keinen einzigen bekennenden schwulen Tänzer. Wenn es darunter Schwule gibt (und offensichtlich gibt es welche), leugnen sie es. Alle heiraten mit Anfang zwanzig, und über Homosexualität spricht keiner, und keiner hat den Mut, sich zu outen, denn die Risiken sind zu hoch."

Dafür meldete sich vergangene Woche ein heterosexueller Ballettkünstler zu Wort. Michail Lawrowskij, ein Schwergewicht, mehrfach prämierter Tänzer, heute Leiter der Moskauer Staatsakademie für Choreografie. "Ich mag das Wort Ballett nicht", sagte Lawrowskij. "Es ist irgendwie nicht männlich, obwohl es im Russischen männlichen Geschlechts ist. Mein Lehrer Alexej Nikolajewitsch Jermolajew sagte seinen Schülern: Ihr müsst immer Männer sein, auch dann, wenn eure Natur sich dagegenstellt."

In Deutschland lebt ein bekennender homosexueller Ballett-Star aus Russland, Vladimir Malakhov, erster Solo-Tänzer und Intendant des Berliner Staatsballetts. In einem Interview sagte er mal auf die Frage, was schwule Männer am Ballett fasziniere: "Wahrscheinlich kommen sie auch wegen der perfekten Körper. Und wenn man dann beispielsweise in ,Caravaggio' den beiden Männern beim Tanzen zusieht, fragt man sich: ,Warum kann ich nicht einer von beiden sein?' Mir geht es da nicht anders."

Mag Vladimir Malakhov vielleicht etwas zu der Situation in Russland sagen? Etwas, was seine Kollegen dort sich nicht trauen zu sagen?

Nein, mag er nicht. Das lässt er über seine Pressedame ausrichten. Vermutlich muss Vladimir Malakhov an künftige gemeinsame Projekte mit russischen Compagnien denken.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1762744
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 05.09.2013/ihe
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.