Vielleicht sollte man mal bei den Tieren nachfragen, wie die das hinbekommen mit dem reibungslosen Miteinander von Heteros und Homos. In Lachmöwenkolonien ist fast jedes zehnte Paar lesbisch. Schwule Pinguine adoptieren den verstoßenen Nachwuchs anderer Pinguin-Paare. Sechs bis zwölf Prozent der männlichen Hausschafe haben, vor die Wahl gestellt, mehr Bock auf Böcke. Die Artgenossinnen und Artgenossen? Kratzt das nicht.
Bei den Menschen ist es anders. Da fängt in der einen Ecke der Herde Erika Steinbach an laut zu blöken, wenn sie Wind davon bekommt, dass Juso-Chef Kevin Kühnert in einer anderen Ecke - im queeren Berliner Stadtmagazin Siegessäule - auf Nachfrage zu verstehen gibt, er sei schwul. "Warum um alles in der Welt werden wir immer mit so Nebensächlichkeiten wie sexuelle Neigungen behelligt? Es interessiert mich nicht, wer mit wem schläft. Es sei denn, es geht um Kindesmissbrauch!", blökt Erika. Dabei hat Kevin weder erzählt, mit wem genau er Sex hat, noch ging es in dem Interview um Kinder. Dass man in der Siegessäule sein Coming-out an die besonders große Glocke hängt, ließe sich auch nicht behaupten. Trotzdem fühlt Erika Steinbach sich belästigt. Und wenn die FAZ über den ironischen Tweet berichtet, mit dem Kühnert auf Steinbach antwortet, füllen sich die Kommentarspalten darunter mit Sätzen wie: "Für mich wird Homosexualität erst normal sein, wenn die Schwulen aufhören, sich öffentlich als etwas Besonderes darzustellen."
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Die zunächst exklusiv von Akademikern unterzeichnete "Gemeinsame Erklärung 2018" gegen eine "illegale Masseneinwanderung" hat sich in eine Petition an den Deutschen Bundestag verwandelt.
Genau: Frauen sind erst dann gleichberechtigt, wenn sie endlich aufhören, als Feministinnen für ihre Rechte einzutreten. Schönste Verdrehungen von Ursache und Wirkung, oder: von Opfer und Täter?
So geht es andauernd weiter, und deswegen hat der Berliner Journalist Johannes Kram das Buch "Ich hab ja nichts gegen Schwule, aber ..." geschrieben. Es trägt den Untertitel "Die schrecklich nette Homophobie in der Mitte der Gesellschaft", und schrecklich nett ist laut Kram, dass die meisten Homophoben heute behaupten, natürlich gar nicht homophob zu sein - weswegen die Homosexuellen, wenn sie sich von Kabarettnummern, Zeitungsartikeln oder Politiker-Statements herabgesetzt oder verspottet fühlen, schon selbst daran schuld sein müssen, dass sie zu humorlos oder zu empfindlich sind. Dabei dürfen die doch jetzt sogar heiraten! Krams Buch ist sozusagen ein erweitertes, kommentiertes Best-of seines " Nollendorfblogs", das er seit 2009 schreibt und das vor zwei Jahren für den Grimme Online Award in der Kategorie "Wissen und Bildung" nominiert war. Kram trägt Beispiele für die offene oder implizite Herabwürdigung Homosexueller in Deutschland zusammen, Texte aus FAZ und Zeit etwa. Dass mit der Ehe für alle nicht alles erreicht ist, darauf insistiert Kram. Weil es, zum Beispiel, immer noch Lehrer gibt, die es halb so wild finden, wenn ihre Schüler sich am liebsten mit dem Wort "schwul" beschimpfen. Oder weil es Annegret Kramp-Karrenbauer gibt, die fünf Tage nach der Abstimmung für die Ehe für alle warnte: "Man muss aber im Blick behalten, dass das Fundament unseres gesellschaftlichen Zusammenhaltes dadurch nicht schleichend erodiert." Ja, man kann beim Lesen dieses Buchs richtig schlechte Laune bekommen.
Was ist Homosexualität? Eine Orientierung? Eine Identität? Ein Lebensstil?
Normalerweise fällt es schwer, Bücher zu empfehlen, die schlechte Laune machen. Kram schreibt aber mit scharfem Witz und Blick. Wie er die Stand-up-Pointen des Kabarettisten Dieter Nuhr, gesendet 2014 im "Satiregipfel" in der ARD, auseinandernimmt, ist brillant. Witze über Lesbenfriedhöfe, Witze über die russische Fantasie, dass in Deutschland die Kinder längst bei den Männern hinten rauskommen, Witze über die heruntergefallene Seife in der Dusche. Immer noch. Nuhr findet, ließ er kürzlich den Spiegel wissen, den Vorwurf der Homophobie "absurd", er habe sich damals über Putins Schwulenfeindlichkeit lustig machen wollen. Für Kram gilt aber: "Schwulenwitze, in denen die Pointe nicht auf verblüffenden Wendungen beruht, sondern in denen Homosexualität an sich die Pointe ist, tragen dieselbe Botschaft weiter", nämlich dass Homosexualität zum Lachen sei. "Wenn es der dumme Homo ist, wenn er dumm ist, weil er Homo ist: Dann ist es Homophobie", schreibt er. Man sollte sich den Satz merken.
Ein Problem gibt es allerdings: Das Buch erscheint leider in Zeiten, in denen der rechte Rollback überall zu spüren ist. Und vor diesem Hintergrund gibt sich Kram vielleicht doch zu wenig Mühe, noch einmal grundlegend zu klären, was Homosexualität ist. Eine Orientierung? Eine Identität? Ein Lebensstil? Alles auf einmal? Aber: in welcher Reihenfolge?
Man sollte hier große sprachliche Genauigkeit walten lassen, und Kram weiß das eigentlich auch. Er gehörte 2013 zu den Initiatoren des sogenannten Waldschlösschen-Appells, mit dem der "Bund Lesbischer & Schwuler JournalistInnen" die deutschen Medien aufforderte, ihre Berichterstattung genauer auf homophobe Sprache, stereotype Zuschreibungen und Diffamierungen zu prüfen. Unter anderem, so der Appell, solle Homosexualität nicht als Entscheidung dargestellt werden.
Das ist deswegen so wichtig, weil durch große Teile des öffentlichen Diskurses bis heute das leidige Ansteckungsphantasma geistert, im Sinne von: Je mehr Homosexuelle sichtbar werden und je gleichgestellter sie sind, desto mehr Menschen kommen auf die Idee, ebenfalls homosexuell zu werden. Das ist Putins Gesetz gegen "Homosexuellen-Propaganda", aber es ist auch deutscher Alltag, und wiederum: eine Verkehrung von Ursache und Wirkung.
Zum Beispiel die erwähnte Aussage der Christdemokratin Kramp-Karrenbauer: "Schleichend erodieren" könnte das gesellschaftliche Fundament durch die Ehe für alle ja höchstens, wenn durch sie auf irgendeine Weise mehr Homosexuelle produziert würden. Dabei ist längst wissenschaftlicher Konsens, dass Homosexualität eine Veranlagung mit biologischen Wurzeln ist, statistisch beständig rangierend irgendwo zwischen anderen Gotteskindern wie den Linkshändern (zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung) und den Rothaarigen (zwei Prozent).
Eine Veranlagung ist keine Entscheidung, man kann sich zum Lesbisch-, Schwul- oder Bisexuell-Sein weder überreden noch sich davon überzeugen lassen. Sicher, es ist eine Entscheidung, zu seiner homosexuellen Veranlagung zu stehen, sie nicht zu verschweigen. Auch ist es eine Entscheidung, aus ihr eine Identität zu formen, und vielleicht auch einen Lebensstil. Aber die Veranlagung selbst - man muss es wohl immer und immer wiederholen - ist keine Entscheidung.
Das Wort Veranlagung taucht in Johannes Krams Buch aber nicht einmal auf. Er verwendet die Worte Orientierung und Identität. Der Grund mag sein, dass Veranlagung ziemlich altmodisch klingt, und: deterministisch. Man hatte sich ja, aus guten Gründen, mit den Werkzeugen der Gender-Theorie und Identitätspolitik darangemacht, zwischen biologischem und sozialem Geschlecht zu trennen, um deterministische Vorstellungen zu kritisieren.
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In Zeiten des rechten Rollbacks kann man aber nicht mehr darauf vertrauen, dass jeder die Begriffe richtig und vollumfänglich versteht und verstehen will. Im Gegenteil: Für lauter werdende Teile der Gesellschaft sind sie regelrechte rote Tücher. Orientieren? Kann man sich immer wieder anders. Identitäten? Können wechseln. Früher Punk, heute Business-Punk, gestern Marxist, morgen Matthias Matussek. Und schon ist man viel zu schnell da, wo man gar nicht hin will, nämlich in einem Topf mit rechten Kampfbegriffen wie "postmoderne Beliebigkeit" oder Sätzen wie: Die Schwulen wollen ja unbedingt etwas Besonderes sein, oder: Und morgen darf dann jeder seine Katze heiraten?
Vielleicht wäre es deswegen momentan im Kampf gegen Homophobie, zumindest strategisch, wichtig, das Nichtbeliebige an Homosexualität zu betonen, von ihr eben nicht allein als Identität zu sprechen. Dann müsste man aber auch Abstand davon nehmen, Homosexualität mit Veganismus zu vergleichen. Kram tut dies am Ende: Er erzählt, wie er mit einem Freund, der Veganer ist, essen geht, und wie der Freund sich in Restaurants immer wieder erklären muss ("Bist du sicher, dass du vegan bist? Das ist doch so ein Mode-Ding"). Gerade in deutschen Restaurants werde, so Kram, dem Freund kaum Verständnis entgegengebracht, und das sei sehr anstrengend.
Klar, es ist verdammt anstrengend, als homosexueller Mensch sich immer wieder erklären zu müssen. Aber wenn man es tut, sollte man die passenden Vergleiche wählen. Veganismus ist ein denkbar schlechter - weil man sich für oder gegen ihn entscheidet und weil der Messianismus, mit dem manche Veganer ihre Entscheidung für ein besseres, gesünderes, längeres Leben vor sich hertragen, nerven kann. Auch die muss man respektieren, unbedingt. Aber ein rothaariger Freund oder ein Linkshänder hätte es hier eher getan.