Holocaust-Opfer bei Facebook:Das Blog der Anne Frank

Ein von den Nationalsozialisten ermordeter Junge ist bei Facebook zu finden, soll Farmville spielen und bekommt Plüschbärbildchen geschickt. Ist das gruselig oder eine neue Form der Gedächtniskultur?

J. A. Heyer

Henio Zytomirski hat mehr Freunde als der durchschnittliche Mensch auf Facebook, 4497 sind es mittlerweile. Bei 5000 Facebook-Freunden wird der Mensch zur "Gruppe"; er wird von der Privatperson zum Protagonisten öffentlichen Interesses. Damit wechselt er in Mark Zuckerbergs sozialem Netzwerk den Status: Man kann mit demjenigen nicht mehr einfach nur "befreundet" sein, sondern wird zum "Fan", zum Anhänger dieser Gruppe. Noch ist es nicht so weit, noch stehen auf Henio Zytomirskis virtueller Pinnwand, wie bei jedem anderen Facebooknutzer auch, die Kommentare seiner Freunde. "Alles Liebe" zum Beispiel, nebst der Einladung, "Mafia-Wars" zu spielen oder einem grell gezeichneten Plüschbären, der mit einer zum Herz geformten Sprechblase sagt "I like you".

Kurze Hose und Seitenscheitel

Und doch ist mit dieser Facebookseite alles ein bisschen anders: Henio Zytomirski, geboren 1933 in Lublin, Polen, ist tot. Der jüdische Junge, der auf dem schwarz-weißen Profilfoto in kurzer Hose und mit ordentlich frisiertem Seitenscheitel im Eingang eines Hauses steht, wurde 1942 im Vernichtungslager Majdanek umgebracht. Henio Zytomirski wurde nicht älter als acht; er ist eines von unzähligen kindlichen Opfern des Holocaust. Eines mit Facebookauftritt.

Die Debatte über die unterschiedlichen Formen und Ausdrucksweisen der Erinnerung wird so vehement wie anhaltend geführt. Nicht nur in Deutschland gilt das Erinnern an die Verbrechen der Nationalsozialisten als Maß, an dem sich jede Art und Weise öffentlichen Gedenkens misst. Die Frage, wie ein Monument auszusehen hat, das an staatlich verordneten Massenmord mahnt; in welchen Ritualen an die Schoah erinnert werden soll - auf welche Weise an sie oder ihrer gedacht werden darf, treibt deshalb auch nicht nur die Deutschen um.

Noch gibt es keinen Memento-Chip, der die Erinnerung, ob an den Holocaust oder an andere Kriegsverbrechen, ins Menschengedächtnis implantieren könnte. Damit sie dort, als Präventivmaßnahme sozusagen, zur kollektiven Erfahrung werde. Immer drängender wird deshalb die Frage, wie Erinnerung sich bewahren lässt, wenn Zeitzeugen nicht mehr berichten können, wie es tatsächlich war.

Kampf gegen das Vergessen

Beinahe beflissen hat sich die Kulturwissenschaft in den vergangenen Jahren mit diesem Thema auseinandergesetzt; der Diskurs über das mémoire collective hat seit Maurice Halbwachs, der den Begriff prägte, nur an Relevanz gewonnen. Soziologen, Historiker, Philosophen haben Kategorien ersonnen und definiert, die allesamt zusehends zu verschwimmen drohen: Mit Henio Zytomirskis Facebookauftritt verwischt die Unterscheidung zwischen dem sogenannten "kommunikativen Gedächtnis", das mehr oder minder auf persönlichem Handeln und der eigenen Erfahrung gründet, und dem "kulturellen", also der institutionalisierten, der öffentlichen Erinnerungskultur. Das Errichten, oder vielmehr das Hochladen, virtueller Mahnmale in sozialen Netzwerken wie Facebook oder MySpace bedeutet eine Zäsur im weiten Feld der sogenannten Gedächtniskultur.

Dass die sich gegenwärtig immer weniger an Stein und ehernen Gedenktafeln aufhält und stattdessen die ubiquitären Datenströme - das Netz - für sich entdeckt hat, ist erst einmal kein so neues Phänomen. Seiten wie Shoa.de, die mit Slogans wie "Zukunft braucht Erinnerung" ihre Existenz begründen, gibt es schon länger. Die Gedenkstätte Jad Vaschem in Jerusalem arbeitet seit Jahren daran, "die Geschichte des Holocaust durch die Einbeziehung modernster Technologien zu vermitteln". Die Besucher des Internetauftritts sollen nicht nur, heißt es, passive Rezipienten sein, "sondern aktive Mitgestalter eines interaktiven Dialogs im Kampf gegen das Vergessen".

Ein Naziopfer neben Hulk Hogan und Verona Pooth

Neu hingegen ist diese Art Existenz-Mimikry, die das Facebookprofil eines Menschen als virtuelles Mahnmal bedingt: Die simulierte Wiedererweckung der toten Person im Internet kann man, wie auf Henios Pinnwand zu lesen steht, wunderbar finden - "Auf diese Weise halten wir für immer die Erinnerung lebendig"; oder aber man findet sie gruselig. Zumindest gewöhnungsbedürftig mutet diese neue Form der Gedächtniskultur an. Dass der von den Nationalsozialisten ermordete Junge unter der selben Adresse zu finden ist wie Hulk Hogan oder Verona Pooth, dass er aufgefordert wird, Farmville zu spielen oder rosa Plüschbärbildchen geschickt bekommt, wird deshalb nicht nur als update 2.0 des kulturellen Gedächtnisses begrüßt.

Öffentlich monierte der polnische Historiker Adam Kopciowski "die Absurdität" der Facebookseite von Henio Zytomirski. Es sei weder ethisch noch moralisch vertretbar, für einen Jungen zu sprechen, der seit siebzig Jahren nicht mehr am Leben sei. Hier würden Fakten mit Fiktion vermengt, was einer "wahrhaftigen Erinnerung" abträglich sei. Verwaltet wird Henios Facebookauftritt von dessen Cousin - neben Beschreibungen über den toten Jungen in der dritten Person, findet man dort auch vermeintlich eigene Aussagen. "Im September werde ich endlich zur Schule gehen. Ich freue mich darauf", ist zum Beispiel auf Polnisch auf Henios Seite zu lesen.

Fest steht, den sozialen Netzwerken kommt in der Debatte um die Gedächtniskultur mittlerweile eine wachsende Rolle zu. Unterstützt vom United States Holocaust Memorial Museum fand im Dezember in Washington eine Konferenz zum Thema statt, "Using Social Media for Good" lautete der Titel. Statt über flüchtig-alltägliche Interaktionsspäßchen wurde über den virtuellen Auftritt von Anne Frank diskutiert. Anne Frank hat bereits ziemlich viele "Fan"-Seiten auf Facebook. Erinnerung wird dort vor allem als multimediales Event zelebriert: Es gibt Anne Frank-Videos, selbstverständlich Photos, aber auch gescannte Tagebuchseiten. Dazu verschiedene Anne Frank-Blogs; auch in der Ich-Perspektive.

Vorerst wohl doch eine Geschmacksfrage

Dass die Gepflogenheiten der omnikommunikativen Gegenwart vor dem Tod nicht haltmachen, oder mit diesem ein Ende finden, auch das ist mittlerweile nichts neues mehr. Auf Facebook, MySpace und anderen Foren haben Hinterbliebene die Auftritte verstorbener Angehöriger zum Teil in regelrechte Online-Schreine verwandelt. Ob es wünschenswert ist, dass auch das Gedenken an die Opfer des Holocaust sich so absolut zeitgeistgemäß geriert, bleibt vorerst wohl vor allem eine Geschmacksfrage.

Noch stellen Anne Frank und Henio Zytomirski mehr oder minder prominente Einzelfälle dar. Tiefgreifende Veränderungen oder eine virtuelle "transnationale Gedächtniskultur", wie sie von Wissenschaftlern gleichermaßen propagiert wie in Frage gestellt wird, gibt es wohl erst, wenn Institutionen wie Jad Vaschem oder die Shoah Foundation die sozialen Netzwerke tatsächlich für ihr Anliegen entdecken.

In Belgien existiert die Idee, Schulkinder für jeden der 27.594 während des Zweiten Weltkriegs gefallenen alliierten Soldaten, Facebookprofile kreieren zu lassen. Auf einer Internetseite schreibt ein Neonazi, dass man sich dagegen schleunigst zur Wehr setzen müsse: Er wolle sofort damit beginnen, "toten nationalsozialistischen Kameraden" einen Auftritt bei Facebook zu verschaffen. Furchtbar.

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