Holocaust-Gedenken und Karneval:Fasching und Faschismus

Beleidigt ein Karnevalsumzug die Opfer, derer am selben Tag gedacht wird? Das Nebeneinander von staatlich-kollektivem Schuldgedenken und bestehender Kultur muss ertragen werden.

Johan Schloemann

Warum hat die Rote Armee 1945 Auschwitz nicht an einem Tag befreit, der in die Passionszeit fällt? Dann wäre keine Kollision möglich zwischen dem in der Nachkriegszeit Schritt für Schritt etablierten Gedenkkalender zur Erinnerung an die NS-Verbrechen und dem alteuropäisch-christlichen Festkalender, an den das bunte Treiben der Karnevalisten gebunden ist. Läge der Auschwitz-Tag in diesem beweglichen Kalender nie vor dem Aschermittwoch - dem Tag, an dem laut einem beliebten Karnevalslied mit dem Frohsinn "alles vorbei" ist -, dann könnte das erinnernde Bekenntnis zur deutschen Schuld an der Ermordung der Juden mit der traditionellen Zerknirschung der Fastenzeit einhergehen.

Holocaust-Gedenken und Karneval: Adolf-Hitler-Wagen auf dem Rosenmontagszug in der Düsseldorfer Altstadt, 2007.

Adolf-Hitler-Wagen auf dem Rosenmontagszug in der Düsseldorfer Altstadt, 2007.

(Foto: Foto: ddp)

Würde durch eine solche Konstellation, durch eine solche saubere Trennung das vorausgehende Feiern fröhlicher, würde das Auschwitz-Gedenken eindringlicher? Wohl kaum. Und was, wenn der Auschwitz-Tag nicht am 27. Januar, sondern später läge - wenn er dann aber einmal mit dem Ostersonntag zusammenfiele, an dem traditionell mit unbeschwertem Osterlachen die Befreiung von den Sünden gefeiert wird? Könnte das nicht auch als Verhöhnung der jüdischen Opfer empfunden werden?

Nein, so maßgerecht können weder die Weltgeschichte noch das Zusammenleben funktionieren. Das Nebeneinander von staatlich-kollektivem Schuldgedenken und bestehender Kultur muss ertragen werden. Die liberale Gesellschaft gebietet es einerseits, dass die Pietät gewahrt wird, dass also niemand darauf besteht, dass Trauerfeiern und Spaßkundgebungen im selben Raum stattfinden - und andererseits, dass die Vielfalt, dass der längst vollzogene Abschied von einer kultischen Gemeinsamkeit der Gesellschaft toleriert wird.

Weil man die Terminkollision bei der Planung nicht bemerkte oder unproblematisch fand, soll am 27. Januar, am Sonntag, ein Faschingszug durch München ziehen. Am selben Tag werden in Köln rund 30 Karnevalssitzungen stattfinden. In München ist SPD-Oberbürgermeister Christian Ude Schirmherr; er will nach bisherigen Erklärungen selbst an dem Zug am Vormittag teilnehmen und wünscht allen dabei "viel Vergnügen und narrisch schönes Wetter", wie es in einem Grußwort auf der Internetseite des Karnevalsvereins heißt. Der Zentralrat der Juden sieht darin eine "Entehrung": Der Faschingszug "beleidigt", so formuliert es Präsidiumsmitglied Salomon Korn, "die Opfer, derer an diesem Tag gedacht werden soll und wirft ein fragwürdiges Bild auf die Erinnerungskultur in unserer Gesellschaft".

Die literaturwissenschaftliche und ethnologische Forschung ist sich im Anschluss an den 1975 gestorbenen russischen Theoretiker Michael Bachtin ziemlich einig, dass der Karneval letztlich keine anarchische, sondern eine stabilisierende Funktion hat. Das heißt: Durch die entlastende Ventilfunktion von Spott und humoristisch-drastischer Umkehrung der Hierarchien werden die sonst im Alltag herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse nicht untergraben, sondern vielmehr bestätigt. Der Karneval gefährdet also auch nicht den moralischen Konsens der Gesellschaft.

Wenn man auf der anderen Seite gelten lässt, dass die Erinnerung an die Judenvernichtung in Form von Bekenntnis und Mahnung seit Jahren mit vollem Recht Teil der offiziellen Staatsräson geworden ist, und zwar so, dass Bürger und staatliche Organe sich zu diesem Konsens keineswegs nur am 27. Januar bekennen, den Roman Herzog 1996 zum Gedenktag (aber nicht gesetzlichen Feiertag) erklärte - dann fällt es schwer, im Karneval eine Bedrohung dieser ganzjährigen Gedenkkultur zu erkennen.

Gewiss, so wie tragische und komische Maske immer das Doppelgesicht der menschlichen Kultur ausmachen, so sollte man immer sensibel bleiben, was das Nebeneinander angeht. Wie unentscheidbar dies ist, zeigen Inkonsequenzen des rheinischen Karnevals: 1991, beim ersten Golfkrieg, wurden die Rosenmontagszüge abgesagt - wie auch 1931/32 wegen der Weltwirtschaftskrise. Als aber 1992 wegen des jugoslawischen Bürgerkrieges dasselbe gefordert wurde, feierte man lieber weiter. Leicht war man sich einig, dass lustige Musical-Shows am Abend des 11. September 2001 abzusagen seien - schwieriger war die Frage, nach welcher Zeit sie wieder stattfinden durften.

Der Bundestag legt im übrigen seine Auschwitz-Gedenkfeier immer nur dann genau auf den 27. Januar, wenn dies ein Werktag ist - damit das Wochenende frei bleibt. Solange nicht, wie in den dreißiger Jahren in Köln durchaus geschehen, antisemitische Karnevalswagen durch die Stadt gefahren werden, sollten wir eine mangelnde Anerkennung der Schrecklichkeit des Holocausts weder den Kamellenschmeißern noch den Bundestagsabgeordneten noch all jenen unterstellen, die sich am 27. Januar im Fernsehen die Comedy-Show "Sechserpack" ansehen werden.

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