"Bad Times at the El Royale" im Kino:Hinter den Spiegeln

Lesezeit: 4 min

Eine Nacht im Jahr 1969 im El Royale Hotel – da muss natürlich auch Jon Hamm dabei sein, der hier scheinbar Staubsauger verkauft. (Foto: Fox)

Ein Hotel im amerikanischen Westen, in dem jeder Gast ein Geheimnis hat - Drew Goddards "Bad Times at the El Royale" spielt mit dem uralten Voyeurismus des Kinos.

Von Juliane Liebert

Es gibt einen alten Trick, mit dem man herausfinden kann, ob ein Spiegel tatsächlich ein Spiegel ist oder ein Spionspiegel - man muss seinen Finger auf die Scheibe legen. Wenn es eine Lücke zwischen Finger und Spiegelung gibt, ist er echt, wenn nicht, nun, dann hat man ein Problem. Im El Royale, dem Hotel, in dem Drew Goddards neuer Film sich ereignet, berühren sich Finger und Spiegelung immer direkt. In jedem der Zimmer ist ein großer Spionspiegel, dahinter führt ein Flur entlang, und von diesem Flur kann man heimlich in die Zimmer schauen. Die Guckfenster wirken wie kleine Kinoleinwände, in Reih und Glied, inklusive Abhöranlage und einer Kamera.

Und da gibt es einiges zu sehen, besonders in der ersten Nacht des Films, denn die Gäste sind illuster: Ein Priester (Jeff Bridges), eine Sängerin (Cynthia Erivo), ein Staubsaugerverkäufer (Jon Hamm) und eine übel gelaunte Hippiebraut (Dakota Johnson) checken ein. Das El Royale sei kein "Ort für einen Priester", warnt der Lobbyboy und einzige Angestellte (Lewis Pullman), aber das sollte, wie sich bald zeigt, noch seine geringste Sorge sein. Denn der Priester macht sich direkt daran, den Boden seines Zimmers aufzuhacken, das Hippiemädchen hat einen Haufen Waffen und eine Geisel dabei, und der Staubsaugerverkäufer ... es wird sich zeigen.

Der eigentliche Hauptdarsteller des Films aber ist dieses Hotel an der Grenze zwischen Kalifornien und Nevada, das dem mythenumwobenen Rat-Pack-Hangout Cal Neva Resort am Lake Tahoe nachempfunden ist - und seine überdick aufgetragene, flickernd farbenprächtige Retro-Aura. Das ist kein Zeitkolorit mehr, das ist Zeit-Paintball: Die Oldtimer glänzen in der Sonne wie frisch aus dem Katalog, die Vending Machines rotieren mit ihren höchst verdächtigen Sandwiches, die gesamte Ausstattung ließe Wes Andersons Grand Budapest Hotel vor Neid schlucken und blass werden, sofern Hotels schlucken und blass werden können, aber wenn es eines kann, dann das El Royale. Es ist mehr der Archetypus eines Hotels, als dass es ein echtes sein soll, mehr Idee als Kulisse, man kann nie ganz sicher sein, ob es in den Zimmern überhaupt Toiletten gibt, und wenn, Klopapier gibt es garantiert keines.

Noch wesentlicher für die Dramaturgie ist das Set-up mit den Spiegeln. Sie erzeugen eine doppelte Beobachtungssituation, die Goddard geschickt ausnutzt: Jeder von ihnen wird zur Leinwand, die Zuschauerperspektive verdoppelt sich. Etwa wenn die Hippiefrau, die sich mit ihrem bürgerlichen Namen "Fuck you!" ins Gästebuch eingetragen hat, in den Spiegel ihres Zimmers schaut, also sich selbst betrachtet.

Der heimliche Beobachter, der mit dem Kinozuschauer zusammen auf der anderen Seite steht, nur wenige Zentimeter von ihr entfernt, weiß zwar, dass er für sie unsichtbar ist. Es besteht aber immer die Möglichkeit, dass der Spiegel durch irgendeinen magischen Trick seine Fähigkeit verliert - und sie einen plötzlich doch sieht.

Das überträgt sich in den besten Momenten aus der Filmebene in den Vorführungssaal: Was, wenn der Trick auffliegt, alles ein Irrtum war, diese ganzen hundertzwanzig Jahre Kino, einen die Charaktere plötzlich doch sehen können, wie man da voyeuristisch in seinem Sessel sitzt? Zumal die Frau eine Waffe hat!

Es werden Menschen sterben. Die Action im Film ist schnell und brutal, sie wirkt noch schneller und brutaler, weil Goddard sich Zeit für Details nimmt: Die Münzen klicken in den Slots der Jukebox, die Platte wird angehoben, die Nadel aufgelegt. Die Sängerin darf oft und ausführlich singen, die Musik sind eingängige Sechzigerjahre-Songs, es ist inzwischen beinahe schon langweilig, Brutalität mit den süßesten Melodien zu unterlegen, aber es funktioniert immer wieder.

Man wünscht sich ein Geheimnis hinter dem Geheimnis - denn die Wahrheit kann öde sein

Ein bisschen schade ist, dass Goddard die Geheimnisse seiner Figuren recht schnell preisgibt - sowohl ihre falschen als auch ihre wirklichen Identitäten sind so vertraut und poliert wie das Interieur des El Royale. Ihre Scherenschnitte wurden über Jahrzehnte ins kulturelle Bewusstsein eingeritzt. Der Film wird als Hommage an Tarantino gedeutet - aber im Vergleich zu Tarantino geht hier das Puzzle eher zu perfekt auf. In der zweiten Hälfte tritt Chris Hemsworth als gewalttätiger, charismatischer Sektenführer auf den Plan. Im Gegenlicht, mit sehr tief sitzenden Hosen durch Sonnenblumenfelder streifend, ein sadistischer Jesus auf Abwegen. Spätestens da sind die Illusionen vorbei, die Geheimnisse geklärt, aufgereiht und abgerechnet, der Showdown ist spannend, macht aber viel weniger aus den Möglichkeiten, als drin gewesen wäre.

Es wurde in der Filmtheorie kontinuierlich darüber diskutiert, ob der Film jetzt eine Illusionskunst ist, die Leinwand ein Rahmen, in dem das Kunstwerk stattfindet. Oder ob er von dem Blick in die Wirklichkeit lebt, also die Leinwand als Fenster betrachtet wird. Der bekannteste Vertreter der letzteren Auffassung war André Bazin, der Filmtheoriestar der Nouvelle Vague. Heute gelten solche Fragen als veraltet, weil eh alles digital ist, aber das heißt nicht unbedingt, dass sie wirklich vom Tisch sind. Goddards Hotelidee böte die Chance, diese Dinge neu zu verhandeln. Wofür das Genre eigentlich schon immer prädestiniert war - eine glatte Oberfläche ist manchmal das beste Schmiermittel für Tiefe. Zumal "Bad Times" die Frage nach dem Wirklichkeitswert dessen, was wir sehen, mit dem uralten Spiegelmotiv verbindet.

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Die Spiegel dienen hier zugleich der Verstörung und Selbstversicherung der in ihren Rollen gefangenen Personen. Als sie zerbrochen werden, zeigt sich leider nur, dass die Wahrheit genauso öde ist wie die Illusion. Man wünscht sich ein Geheimnis hinter dem Geheimnis, und dahinter noch eins - stattdessen kriegt man den hundertsten Charles-Manson-Aufguss und okay-aufregendes Geballer. "Es macht mich nicht mal mehr wütend", lässt Goddard die Figur der schwarzen Sängerin am Ende sagen: "Ich bin nur müde und gelangweilt. Ich würde lieber hier auf meinem Stuhl sitzen und dem Regen lauschen." In mancher Hinsicht muss man ihr zustimmen. Denn der Regen bewahrt sein Geheimnis, ohne je langweilig zu werden, obwohl er immer derselbe bleibt.

Bad Times at the El Royale , USA 2018 - Regie und Buch: Drew Goddard. Kamera: Seamus McGarvey. Schnitt: Lisa Lassek. Mit Jeff Bridges, Dakota Johnson, Jon Hamm. Verleih: Fox, 141 Minuten.

© SZ vom 11.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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