Würde Aristoteles sich den neuen James-Bond-Film anschauen? Der Blockbuster "Keine Zeit zu sterben", der am 2. April in den Kinos startet, ist der 25. Teil der 007-Reihe und hätte den griechischen Philosophen vermutlich zur Verzweiflung gebracht. Denn er ist dieses Jahr das prominenteste Beispiel für ein Phänomen, das allem widerspricht, woran Dramentheoretiker wie Aristoteles genauso wie Drehbuchautoren in Hollywood lange geglaubt haben, das die Filmindustrie aber trotzdem fest im Griff hat: Er ist ein "Bleakquel".
Diese Wortneuschöpfung aus den englischen Begriffen für düster ( bleak) und Fortsetzung ( sequel) ist die treffendste Beschreibung dessen, was in Hollywood derzeit vom Film-Fließband rollt. Denn während die Wörter Prequel, Sequel, Spin-off und wie all die anderen furchtbaren Zustandsbeschreibungen des modernen Kinos lauten, eher eine Beschreibung der Form sind, charakterisiert das Bleakquel das inhaltliche Dilemma, in dem sich die amerikanische Filmbranche befindet. Alles muss immer noch furchtbarer und trostloser und furchtbarer werden, denn nur so lässt sich noch Kasse machen.
Früher hat es gereicht, dem Helden einen neuen Bösewicht vorzusetzen - heute muss die psychische Verfassung herhalten
Nur um zu sehen, dass nach dem letzten Happy End alles bestens verlaufen ist - die Beziehungen der Protagonisten stabil, die Weltlage ein bisschen heiler als zuvor -, ist natürlich noch nie jemand ins Kino gegangen. Aber früher hat es gereicht, dem Helden einen neuen Bösewicht vorzusetzen. Oder einfach einen neuen Schauplatz zu wählen: Flughafen statt Hochhaus in "Stirb langsam 2", Manhattan statt Eigenheim in "Kevin - Allein in New York".
Heute allerdings muss auch der psychische Zustand der Protagonisten wie überhaupt die Verfassung seines Filmuniversums immer desolater werden. Die Helden strampeln sich in einem Hamsterrad ab, das sich bei jeder neuen Runde ein bisschen schneller drehen muss. Das kann man beispielhaft an der Bond-Reihe begutachten, in welcher der Held früher seine Abenteuer fidel und selbstgewiss bestritt, heute aber in der Logik des Bleakquels von Mal zu Mal verzweifelter und depressiver zu Werke gehen muss, wie auch schon der Trailer zum neuen Teil suggeriert. Diese Tendenz zeigt sich auch in den letzten "Star Wars"- und "Star Trek"-Filmen, in den Superheldengemetzeln der "Avengers" und selbst in Trickfilmfortsetzungen wie "Toy Story"; und sie wird sich noch verstärken, wenn "Avatar" zwei, drei und vier und all die anderen Bleakquel-Großoffensiven der Studios anlaufen.
Womit das Kino mittlerweile vor den gleichen Herausforderungen steht wie die boomende Serienproduktion. Um der wachsenden Nachfrage nach dem nächsten Serienkick nachzukommen, raufen sich in Hunderten von Writing Rooms auf der ganzen Welt die Drehbuchautoren die Haare, um sich für die nächste Folge und die nächste Staffel eine noch dramatischere Volte als jemals zuvor auszudenken. Denn die Quoten von "Mad Men" und "Game of Thrones" waren ja nicht deshalb so gut, weil die Protagonisten endlich Diät gemacht, auf außerehelichen Sex verzichtet und sich in gegenseitiger Rücksichtnahme geübt hätten. Sondern weil alles den Bach runter ging.
Was dem Zuschauer als glückliches Ende verkauft wurde, erweist sich im nächsten Teil als Lüge
Was uns zurück zu Aristoteles bringt. Die Dramentheorie des griechischen Philosophen hat in den vergangenen paar Tausend Jahren zwar ein paar sanfte Updates erfahren, ist im Kern aber immer noch das Standardmodell, nach dem Geschichten erzählt werden. Auch in Hollywood. Dort kann man mit Drehbuchratgebern für Taxi fahrende Stardramaturgen in spe zwar mindestens genauso reich werden wie mit Filmen; aber im Wesentlichen referieren diese Anleitungen auch nur Aristoteles' Dreiaktstruktur, deren simpelste Zusammenfassung lautet, dass ein anständiges Drama einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben sollte.
Das Ende war für Aristoteles besonders wichtig, weil es nicht nur den handelnden Personen, sondern auch dem Zuschauer eine Katharsis verschaffen sollte. Protagonisten und Publikum sollten aus einer Aufführung als bessere Menschen hervorgehen, gereinigt und gefestigt. Für Aristoteles war das eine Frage der Moral. Das Konzept hat sich aber auch als kapitalistisches Erfolgsrezept in harten Dollars ausgezahlt. Das Happy End war auch eine der wichtigsten Erfolgssäulen der amerikanischen Filmindustrie, die bis weit in die Nullerjahre hinein vor allem davon lebte, die Zuschauer mit der Option auf eine Welt ohne Beziehungskrisen, Darmkrebs und Donald Trump einzulullen. Natürlich gibt es auch heute noch Happy Ends. Aber was analog zum Fernsehen im Kino gerade passiert, ist die permanente nachträgliche Revision des dritten Aktes eines Films im ersten Akt der Fortsetzung.
Was dem Zuschauer als glückliches Ende (oder zumindest als Ende) verkauft wurde, erweist sich zu Beginn der Fortsetzung als Lüge, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Früher blieb den Helden ihr Heldenstatus auch in der Fortsetzung erhalten. Heute buhlt fast jeder Trailer für eine Hollywood-Fortsetzung um die Aufmerksamkeit des Publikums, indem er zeigt, dass die Protagonisten in der Gosse liegen. Dass man mit diesem Erzählmodell schnell an Grenzen stößt, beweisen unzählige Serien, deren Macher gut daran getan hätten, nach der dritten Staffel einfach aufzuhören, weil es nach finster, finsterer und am finstersten keine Steigerungsform mehr gibt.
Aristoteles jedenfalls würde dem James Bond des Jahres 2020 zur Verhaltenstherapie raten: Such' dir eine nette Frau, die keinerlei Verbindungen zu psychopathischen Massenmördern hat. Rette die Welt, indem du zu Fridays for Future gehst - und sei gefälligst happy bis zum Ende.