Holland - Deutschland:Die Versteckte Sprache

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Wir hatten zwei Stücke Land, beide am Waldrand, auf denen meine Eltern Spargel anbauten. Wir, meine drei Brüder und ich, halfen bei der Ernte. In aller Früh zogen wir hinaus aufs Feld, schlaftrunken und manchmal auch schlecht gelaunt, weil im Monat Mai die meisten Prüfungen stattfanden und wir unter Umständen wenige Stunden später mit Trauerrändern unter den Fingernägeln Multiple-Choice-Fragen auszufüllen hatten. Die schlechte Laune verflog schnell. Im Wald trällerten die Vögel, dass es eine Lust war, und Spargel stechen ist zwar eine schwere, aber vor allem eine spannende Arbeit, man braucht Talent dafür und muss sich konzentrieren ­ die ideale Kombination für eine bestimmte Form von Glück. Wir arbeiteten meist still vor uns hin.

Von Zeit zu Zeit schrie mein ältester Bruder theatralisch, dass er ein perfektes Exemplar der Güteklasse eins a plus beim Wickel habe, und reckte es dann triumphierend in die Höhe. Froh, kurz den Rücken strecken zu können, begutachteten wir seinen Idealspargel und gratulierten ihm zu seinen Laseraugen. Laseraugen, das war das allergrößte Kompliment, das hieß, dass man durch die Erde hindurchsehen konnte und kein Spargel, mochte er auch noch so versteckt sein, dem Blick entging.

Um ein guter Spargelstecher zu sein, muss man die Erde lesen können. Der eine Riss darin ist durch Trockenheit entstanden, danach bückt man sich nicht. Der andere aber rührt von einer noch versteckten Stange her, die sich einen Weg nach oben bahnt und im Licht grün werden möchte, was unbedingt zu verhindern ist. Nur bei diesem Bodenzeichen beugt man den Rücken.

"Die Jugend des Wirtschaftswunders: Verführung, Theater, Schuld und verlorene Väter charakterisieren sie."

Das Geld, das das weiße Gold zusätzlich einbrachte, sei für unser Studium, hieß es. Universitäten waren teuer, wir hatten alle den nötigen Verstand und unsere Eltern wollten, dass wir es einmal besser haben würden als sie. Wir durften tun, was ihnen nicht vergönnt gewesen war, und für diese Zukunft der unbegrenzten Möglichkeiten arbeiteten sie von früh bis spät. Alles, was sie taten, war zu unserem Besten. Unser Glück war ihr Glück.

Das Bild einer Generation

Von Bielefeld bis Berlin, von Kiel bis Koblenz, wo ich auch bin, es passiert immer beim Vorlesen dieser einen Passage. Durch die Schauspielerin Judit spreche ich über das Joch des Glücks, das auf den Schultern der Generation lastet, der ich angehöre, und das Publikum reagiert bewegt. Was der Roman auch sonst noch alles sein mag, ein Spiel mit den Gesetzen der Biografie und somit dem Verhältnis zwischen Wahrheit und Fiktion, eine Studie über den Archetypus des Don Juan und somit über das Theater und die Kunst, ich versuche mit Ganz der Ihre auch ein Bild einer Generation zu zeichnen.

Warum sollte man denn zur Lesung eines Schriftstellers gehen, wenn man nicht etwas zu hören bekommt, was nur dieser Schriftsteller so sagen kann, wie er es sagt? Die Überschriften der vier Kapitel meines Romans enthalten jeweils ein Element, das ich als charakteristisch für die Jugend des Wirtschaftswunders erachte: Verführung, Theater, Schuld und verlorene Väter. Wir waren die erste Generation, die durch die Werbung, das Fernsehen und eine neue Wirtschaft verführt zu werden hatte, und um die Kosten dieser Verführung bezahlen zu können, arbeiteten unsere Väter außer Haus, manchmal achtzig Stunden die Woche.

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