Hörbuch-Kolumne:Welt von fragwürdiger Beschaffenheit

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Zuhören hilft gegen die Kurzatmigkeit der eigenen Existenz: Drei Geschichten über Dreierkonstellationen von Lutz Seiler, Graham Swift und James Baldwin.

Von Jens Bisky

Lesungen legen eine fast übersteigerte Konzentration nahe. Bei der stillen Lektüre mag man mal vor-, mal zurückblättern, auf dem Bleistift kauen, rascher oder langsamer lesen. Wer dagegen Lesungen lauscht, sie nicht nur als Geräuschkulisse nutzt, vertraut sich einer Stimme an, einem Rhythmus, der einen im besten Falle aus der Kurzatmigkeit der eigenen Existenz reißt - wie bei Hören dieser drei Geschichten über Dreierkonstellationen.

Von den Bischoffs ließe sich lernen, wie man ungewohnte, viel zu schwere Situationen meistert, ohne sich der Übermacht der Wirklichkeit zu beugen. Als die kleine Familie, Vater, Mutter, Kind, noch zusammen wohnt, damals in Gera-Langenberg, frisiert Inge Bischoff ihre beiden Männer, wenn es an der Zeit und der "Haarschneidetag" gekommen ist. Der Sohn Carl hat dem Vorgang, dem Familienritual in der schmalen Küche, das aufreizend kurze Gedicht "Der kleine Sklave" gewidmet, aber weder er noch seine Mutter ahnen, wie nützlich die Fähigkeit noch werden könnte, anderer Leute Köpfe in Fasson zu bringen. Gleich nach dem Mauerfall flieht Inge Bischoff mit ihrem Mann in den Westen, wo man ihr mit viel Rührung begegnet, aber Geld und Arbeit bleiben anfangs knapp. Für wenige Mark schneidet sie in Diez an der Lahn all den Flüchtlingen aus dem Osten, die mit ihr in einem Wirtshaus wohnen, die Haare, verpasst ihnen einen "Übersiedlerschnitt", während der Sohn in Ost-Berlin Häuser besetzt, Gedichte schreibt, Wildes erlebt. Wie man die Gunst der Stunde nutzt, davon erzählt Lutz Seiler in "Stern 111" ( Ungekürzte Autorenlesung. 2 mp3-CDs, DAV, 25 Euro) . Er liest seinen Roman mit großer Behutsamkeit, in gleichmäßigem Tempo und so ernst, unter Verzicht auf alle Rampensauhaftigkeit, dass beim Hören Ironie, Heiterkeit, Absurditäten des überwältigend komischen Buches neu entdeckt werden können. Dabei schließt man vor allem Mutter und Vater Bischoff ins Herz. Sie vereinen scheinbar zwanglos, ganz bodenständig, eine realistische Sicht auf die Dinge, Beherztheit, Lebenslust, Improvisationstalent. Sie wissen, dass die Welt wacklig ist, "anfällig, von fragwürdiger Beschaffenheit", aber sie halten die Welt für reparabel.

Vielleicht wäre es einfacher, sie zu verzaubern. "The show must go on": Im sonnigen Brighton sollen die Leute ihre sonnigen Seiten zeigen, in die Revue gehen, zum Beispiel, in der auch Jack, Ronnie und Eve auftreten. Dort beginnt Graham Swifts Roman "Da sind wir", und gleich in der Eingangsszene sind neben dem Amüsementgebot die Nachkriegszeit präsent und die "lähmende Frage", wer einer denn überhaupt sei. Schwung und Liebe, Abscheu, Panik, Schwindel treten gemeinsam auf. Ulrich Noethen, seit Jahren einer der besten Leser auf dem Hörbuchmarkt, schafft es, das Ineinander darzustellen, ohne die verschiedenen Gefühle, Stimmungen, Töne zu einem ununterscheidbaren Brei zu verrühren. Das ist von bewundernswerter Präzision. ( Graham Swift: Da sind wir. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. Ungekürzte Lesung mit Ulrich Noethen. DAV, 4 CDs, 20 Euro). Eine Dreiecksgeschichte wird erzählt: Zwei befreundete Männer lieben, jeder auf seine Weise, dieselbe Frau, die mit dem Zauberer verlobt ist und mit dem Entertainer eine Affäre hat. Man glaubt Ulrich Noethen jedes Wort und kann doch keines für die ganze Wahrheit halten.

Niemand könne im Garten Eden bleiben, mit dieser Bemerkung überrascht ein Pariser Bekannter den jungen Amerikaner David. Die Frage "Warum eigentlich nicht?" geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er hat sich in den bezaubernden in Giovanni verliebt, ist ihm und ihrer Liebe verfallen und verleugnet sie dann doch, entscheidet sich für seine Verlobte. "Giovannis Zimmer" von James Baldwin ist ein Klassiker der schwulen Literatur, eine melodramatische Geschichte über Begehren, Feigheit, Selbsthass, das Gefangensein in Erwartungen, Selbstbildern, die zum eigenen Ich gar nicht passen ( James Baldwin: Giovannis Zimmer. Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow. Gelesen von Thomas Lettow , 6 CDs, 20 Euro). Als in diesem Jahr die Neuübersetzung erschien, war mehrfach vom historischen Abstand die Rede, von den Unterschieden zwischen heutigem Emotionsmanagement in vermeintlich liberalen Zeiten und dem existenziellen Ergriffen- und Ausgeliefertsein, das James Baldwin Mitte der Fünfzigerjahre beschrieb. Thomas Lettow verleiht David und seinem Liebesleid, seiner Selbstprüfung und seinem Selbsthass eine dramatische Wucht, die unmittelbar berührt. Hier klingt Baldwin ganz gegenwärtig: "Die Menschen stecken voller Überraschungen, sogar für sich selbst, wenn sie ordentlich aufgerüttelt werden".

© SZ vom 28.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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