Hörbuch:Hamlet spielen

"HAMLET" ANGELA WINKLER

"Alas, poor Yorick!" - Angela Winkler als Hamlet.

(Foto: dpa)

Klaus Pohl erinnert sich an die Proben zur legendären Zadek-Inszenierung mit Angela Winkler.

Von Christine Dössel

Wenn ein Theaterensemble zu einer großen neuen Inszenierung aufbricht, ist das eine Expedition mit ungewissem Ausgang. Das Reiseziel ist vorgegeben, die Mannschaft gecastet und gebrieft. Doch welche Wege und Umwege sie nimmt, auf welche Hindernisse und Abgründe sie trifft, ob sie je ankommen wird, und wenn ja, wo - das ist offen und die Gefahr des Scheiterns groß. Wie groß, das erfährt man als Außenstehender meistens gar nicht. Proben finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit (auch unter Ausschluss der Kritik) statt, und das ist prinzipiell gut so.

Schauspieler brauchen, um ihre Rollen zu erarbeiten, einen geschützten Raum. Der ist bisweilen ein Kinderzimmer, manchmal auch ein Panic Room. In einen solchen einmal hineinzulugen und all die Katastrophen und Irrwitzigkeiten mitzubekommen, die sich darin abspielen, ist ein seltenes Privileg, das Klaus Pohl in seinem von ihm selbst geschriebenen und gelesenen Hörbuch "Sein oder Nichtsein" gewährt. Darin beschreibt der Schauspieler, der auch Dramatiker ist, die Proben zu Peter Zadeks berühmter "Hamlet"-Inszenierung von 1999, mit der wundervollen Angela Winkler in der Titelrolle und anderen Top-Schauspielern aus der einstigen Zadek-Familie wie Eva Mattes und Otto Sander (als Gertrud und Claudius).

Auch Pohl war damals dabei, er spielte Hamlets Freund Horatio, dem der sterbende Titelheld am Ende sagt: "Berichte von meinem Schicksal." Pohl nahm diesen Auftrag persönlich und führte während der Proben akribisch Tagebuch, im Wissen aller Beteiligten. Aufbereitet "in wohltemperierter erzählerischer Freiheit" zu einer intimen Erzählung gibt dieser Insider-Report einen so unterhaltsamen wie erhellenden, nahezu dokumentarischen Einblick in den Entstehungsprozess von Theater. Und er ist auch gelebte Theatergeschichte.

Zadeks "Hamlet" war eine Koproduktion der Wiener Festwochen mit mehreren Bühnen, unter anderem dem Théâtre national de Strasbourg. Die Proben und eine Vorpremiere fanden vertragsgemäß in Straßburg statt, in einer Kanonenhalle, deren weiße Wände der Allesbestimmer Zadek erst schwarz streichen ließ und dann doch wieder weiß, weshalb die Schauspieler "farbenfrei" bekamen und danach schier "high" wurden von den Dämpfen. Allein schon diese Episode steckt voller probenneurotischer Komik.

23 Jahre zuvor, 1977 in Bochum, hatte Zadek Shakespeares "Hamlet", für viele das Stück aller Stücke, schon einmal inszeniert, damals mit dem normensprengenden Ulrich Wildgruber in der Titelrolle. Die Inszenierung war, wie so oft bei Zadek, ein skandalumwitterter Knaller - und ein Triumph. Das Schwerkaliber Wildgruber wurde als "anarchistischer Clown" gefeiert, ein Hamlet mit Sonnenblume und rotem Mantel, "überirdisch" soll er gewesen sein, mit "purer Lust an der Verzweiflung".

Das weiß vor allem Angela Winkler, der dieser Vorgänger-Hamlet fast so viel Angst einflößt wie die Textmassen, die sie zu bewältigen hat in dieser größten aller Rollen. Erschwerend hinzu kommt, dass Wildgruber bei den Proben höchstselbst dabei ist, diesmal besetzt als Hofschranze Polonius, eine Rolle, mit der er im gleichen Maße hadert, wie er Angela Winkler die Protagonistenrolle missgönnt. Für Wildgruber gilt: "Hamlet ist ein Mann." Eigentlich meint er damit: Hamlet ist Wildgruber. Aber das sagt er natürlich nicht. Einmal jedoch, in einer besonders trunkenen Nacht - trunkene Nächte gibt es in Pohls süffigen Aufzeichnungen viele -, wird er gegenüber Angela Winkler sehr gehässig. "Du bist zu dumm für diese Rolle", schleudert er ihr entgegen und vieles Wutentbrannte mehr. Woraufhin Winkler ihm einen Kuss gibt und am nächsten Tag spurlos verschwunden ist. In ihrer Wohnung verstreute Zettel, darauf Sätze wie: "Es wird schlimm enden." Hamlet-Sätze.

Es wird nicht bei diesem einen Aufreger bleiben. Zweimal nimmt Winkler Reißaus, ist buchstäblich von der Rolle und muss vom Regisseur zurückgeholt und bestärkt werden. Das eine Mal findet Zadek sie bei einem Bienenbauern in den Vogesen, das zweite Mal in Berlin bei ihrer Familie. Angela Winkler will die Rolle nicht spielen und ist damit für Zadek genau die Richtige, denn: "Wer Hamlet spielen will, ist schon mal falsch besetzt", so sein Credo. Gegen ihre Textangst bekommt die Schauspielerin schließlich Ohrstöpsel, mittels derer ihr die Souffleuse Sätze einflüstern kann. Das tut diese jedoch so laut, dass Zadek auf einen schalldichten "Soufflierbunker" besteht - mit dem Nachteil, dass die Souffleuse grün und blau anläuft, weil sie in dem Unikum kaum Luft bekommt.

Tobsuchtsanfälle, Stress, Besäufnisse, Dramen. Der von einem Floh und diversen Unterhaltsklagen geplagte Uwe Bohm ist empört, weil er als Laertes exakt "nur dreieinhalb Minuten Text" hat. Der stille, sonst brav ergebene Hermann Lause rastet im fünften Akt aus, weil er als Totengräber einen Sondermüllanzug mit Gasmaske tragen soll (als Verweis auf den damaligen Kosovo-Krieg). Und der dauergekränkte Wildgruber lässt gleich die erste wichtige Probe ausfallen, weil er zu einem Gastspiel nach Essen muss - wo ihm ein Vorderzahn ausfällt. Welch herrliches Backstage-Komödienmaterial: der nackte Wahnsinn.

Pohl liest dynamisch-zackig, in schnellem Tempo, maximal unsentimental

Klaus Pohl ist sensibel, klug und selbstbeteiligt genug, um all das nicht billig zu verbraten - womöglich auch noch auf Kosten einzelner Kollegen, viele inzwischen tot -, sondern er verwebt den Stoff in einer behänden Erzählsprache zu einer plastischen Innenschau, die Charme und Poesie hat und darüber hinaus auch Erkenntnis stiftet. Wer wissen will, wie Schauspieler ticken und was den 2009 gestorbenen Menschenkenner Peter Zadek zu dem berühmt-berüchtigten Schauspielerregisseur und Quälgeist machte, als der er das deutschsprachige Theater nachhaltig aufmischte, der höre hier hin und zu.

Pohl liest dynamisch-zackig, in schnellem Tempo, maximal unsentimental, ohne musikalische Untermalung, ohne nachbearbeitete Perfektion, fünfeinhalb Stunden lang. Das Hörbuch ist die Live-Aufzeichnung einer Lesung im Theater Fleetstreet in Hamburg 2017, das gibt dem Ganzen einen authentischen, ein bisschen altmodischen Archivcharakter. Pohl erweist sich nicht nur als schelmisch-empathischer Chronist, sondern auch als charmanter (verliebter) Kollege, der Angela Winkler an jedem Probentag mit einer frischen, tautropfenbenässten Rose beschenkt und ihr auch das rote Fahrrad kauft, das sie in einem Schaufenster bewundert. Zadeks blasierten Ton kann er besonders gut nachahmen ("toll, ganz toll!"), aber auch Ulrich Wildgrubers Exaltiertheiten, seine schrillenden Schmähreden und oft blumig-pathetischen Monologe kriegt er hochnotkomisch hin.

Ohnehin ist der herzkranke, aufgedunsene, ächzende, schwitzende, sich alterssarkastisch in "stürmischen Gedankenausritten" ergehende, abends schon mal Dutzende elsässischer Weinbergschnecken verschlingende Wuchtmensch Wildgruber die eigentliche Hauptfigur und Diva. Furios, wie er in Thomas Bernhardscher Manier Signalworte wiederholt und Tiraden absondert, immer hochtheatralisch endzeitgestimmt: "Todesangst als Himmelsrichtung!" Das Wissen darum, dass Wildgruber sich am 30. November 1999 umbrachte, gut zwei Wochen nach dem letzten "Hamlet"-Gastspiel an der Berliner Schaubühne, gibt seinen Exaltationen eine bittere Note, lässt sie wie die Chronik eines angekündigten Todes erscheinen.

Wildgruber ging zum Sterben ins Meer. "Hinaus ins Offene, wo sich jede Spur verliert!", lässt ihn Klaus Pohl in seinen Erinnerungen vor der Generalprobe tönen. "Schlafen. Ewig Schlafen. Auf dem ruhigen Wasser liegen und nichts mehr wollen. Dahintreiben ..." Ein Tod, wie von Hamlet erträumt.

Klaus Pohl: "Sein oder Nichtsein". Erinnerungen an Peter Zadeks legendäre Hamlet-Inszenierung. Der Audio Verlag, Berlin 2020. 1 MP3-CD, 324 Min., 10 Euro.

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