Hör-Voyeur:Die Rede macht den Sex

Zwei Frauen: Fanny Ardant will es wissen - in Anne Fontaines erotischem Kammerspiel "Nathalie".

Von H.G. Pflaum

Das erste Bild zeigt Gérard Depardieu. Er wendet der Kamera seinen breiten Rücken zu. Kein Wort fällt, das Gesicht des Darstellers sieht man erst später. Es geht allein um seine physische Präsenz. Wenngleich man ihn eher selten sieht in diesem Film, so wird er doch die meiste Zeit über präsent sein: präsent in den Köpfen und Gesprächen der beiden Frauen, von denen Anne Fontaine erzählt.

Fanny Ardant, dpp

Am Rande der Eifersucht: Fanny Ardant.

(Foto: Foto: ddp)

Wenn die Geschichte wirklich beginnt, warten Catherine (Fanny Ardant) und ihre Gäste vergeblich auf Bernard. Sie wollten ihn mit einer kleinen Party zu seinem Geburtstag überraschen, doch er wird nicht nach Hause kommen. Angeblich hat er in Zürich ein Flugzeug versäumt.

"Phantastisch mit dir im Bett"

Am nächsten Tag hört Catherine auf der Mailbox ihres Mannes, wie sich eine Unbekannte für eine Liebesnacht bedankt. "Es war phantastisch mit dir im Bett!" Zur Rede gestellt, gibt Bernard diesen und einige andere Seitensprünge zu und bagatellisiert sie sofort. Seine Frau ist unglücklicher, als er es sich wohl jemals wird vorstellen können.

"Nathalie" ist indes kein Ehedrama, in dem sich die Partner leidenschaftlich befetzen, bekriegen und verletzen würden; vielleicht ist dafür die wohlhabende Bürger-Welt schon zu saturiert - oder die Beziehung der beiden zu verbraucht und erotisch abgekühlt. Und vermutlich lieben sich die zwei wirklich noch. Anders wäre Catherines eher spontane Initiative kaum zu verstehen: In einem privaten Sexclub trifft sie eine Prostituierte (Emmanuelle Béart) und setzt sie, gegen Bezahlung, auf ihren Ehemann an. Einzige Bedingung ist die genaue und lückenlose Berichterstattung über Bernards Sexualverhalten.

Masochistische Neugier

Wer zahlt, bestimmt. Catherine macht die fremde Frau zu ihrem Werkzeug und - beinahe - zu ihrem Geschöpf. Das beginnt schon mit der Namensgebung - nach dem Willen der Auftraggeberin soll Marlene fortan Nathalie heißen. Es sei sehr einfach gewesen, wird das Callgirl bald berichten, Bernard ins Bett zu kriegen. Die Schilderungen der sexuellen Praktiken werden immer drastischer, immer verwegener, und Catherine hört mit masochistischer Neugier zu, als würden die Details ihre eigene, ermüdete Erotik wieder beleben können.

Selbst die Besichtigung eines "Tatorts" bringt Catherine nicht aus dem Konzept. Erst als Nathalie gesteht, sie hätte trotz ihrer beruflichen Routine den Sex mit Bernard selbst genossen, zeigt die Ehefrau erste Irritationen. Die emotionale Nähe ihres Mannes zu dem Callgirl würde sie eifersüchtiger machen als jedes körperliche Abenteuer.

Spiel mit Vermutungen

Die voyeuristische Dimension dieses Films steckt fast ausschließlich im Reden und Hören. Anne Fontaine geht mit ihren Bildern längst nicht so weit wie mit ihren Dialogen und verzichtet konsequent darauf, Nathalies Erzählungen zu illustrieren. Wo aber ist, wenn die Bilder das Gesprochene nicht bestätigen, der Beweis, dass alles der Wahrheit entspricht, was Nathalie erzählt?

Die Rede macht den Sex

Die Regisseurin belässt es beim Schwebezustand, beim Spiel mit Vermutungen, das spannender ist als jede ausgereizte Bettszene: Was wirklich geschah zwischen Bernard und der gekauften Frau, spielt keine Rolle. Unwichtig auch, dass Catherine ihrerseits aktiv wird und spontan eine Nacht mit einem Fremden verbringt.

Prostituierte Marlene alias Nathalie (Emmanuelle Beart) lockt Bernard (Gerard Depardieu)

Die Versuchung: Prostituierte Marlene alias Nathalie (Emmanuelle Beart) lockt Bernard (Gerard Depardieu).

(Foto: Foto: dpa)

Spannender sind die kaum merklichen Veränderungen in den Reaktionen und Aktionen Catherines und die unweigerlich aufkommenden Beziehungen zwischen den beiden Frauen. Anders als viele ihrer Kolleginnen, so hatte Nathalie bei ihrer ersten Begegnung erklärt, habe sie kein Problem, mit Frauen zusammen zu sein. Doch auch der wachsende homoerotische Unterton verlässt, zum Glück für den Film, nie die Ebene der Vorstellung.

Visuell domestiziert

Einmal sitzt die angetrunkene Catherine neben Nathalie im Taxi; sie hat ihren Kopf an deren Schulter gelehnt, ihre Hand liegt auf dem Unterarm der anderen: Ein Bild der Zärtlichkeit, zweifellos, und später ahnt der Zuschauer, dass sich die beiden Frauen küssen, bevor ein schneller Schnitt ihre Annäherung wieder in den Bereich der Vermutungen zurückverweist.

"Nathalie" mag ein visuell domestizierter Film sein, bis in die von warmen Rottönen geprägte Farbgebung so entschlossen auf Stil bedacht wie das Milieu, in dem er sich bewegt. Anne Fontaine geht an Tabu-Grenzen, aber überschreitet sie nicht. Doch mit der Balance zwischen den Phantasien und der Wirklichkeit ihrer Figuren hält sie auch die eingangs aufgebaute erotische Spannung bis zum Finale durch. Dies ist eine Qualität, von der viele andere vorsätzlich erotische Filme nicht einmal träumen dürfen.

NATHALIE, F 2003 - Regie: Anne Fontaine. Buch: Anne Fontaine, Jacques Fieschi, François-Olivier Rousseau. Kamera: Jean-Marc Fabre. Schnitt: Emmanuelle Castro. Musik: Michael Nyman. Mit: Fanny Ardant, Emmanuelle Béart, Gérard Depardieu, Wladimir Yordanoff, Judith Magre, Rudolphe Pauly, Evelyne Dandry. Concorde, 105 Minuten.

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