Seit Langem wirbelt die Literatur gern den Staub der Archive auf und erweckt dabei den Anschein, sie erzähle nur nach, was in alten Manuskripten und Dokumenten steckt. Aber oft hat sie die Quellen selber ins Archiv geschmuggelt, die sie dann daraus hervorzog. Ihre historischen Romane und Erzählungen folgen nicht den Gesetzen der Geschichtsschreibung, sondern ihren eigenen.
Die unheimliche Expansionsbewegung, die den Kriminalroman in einen Kraken verwandelt, der mit seinen Tentakeln alle anderen Formen umschlingt und sich einverleibt, hat das Archiv nicht ausgelassen. Längst sind den Pergamenten des Mittelalters, die Umberto Eco im "Namen der Rose" mit den Mitteln des Detektivromans in Brand gesetzt hat, die Aktenordner der Moderne und die digitalen Datensätze der Gegenwart an die Seite getreten. Der Staub ist zur Blutspur geworden.
Graeme Macrae Burnet, geboren 1967 im Südwesten Schottlands, hat in Glasgow Englische Literatur studiert und war dann viel in Europa unterwegs. Sein Debüt "The Disappearance of Adèle Bedeau" (2014) ließ erkennen, dass zu seinen Lieblingsautoren Georges Simenon gehört. Mit seinem zweiten, nun ins Deutsche übersetzten Roman "His Bloody Project. Documents relating to the case of Roderick Macrae" hat er es auf die Shortlist zum Booker Prize 2016 geschafft.
Das Buch ist ein geradezu mustergültiges Exemplar der Archivfiktion im Kriminalroman. Es spielt 1869 in der nordwestlichen Küstenregion Schottlands und erzählt die Geschichte des siebzehnjährigen Roderick Macrae, der beschuldigt wird, in seinem Heimatdorf Culduie drei Menschen mit äußerster Brutalität ermordet zu haben. Der Autor, Graeme Macrae Burnet, so teilt das Vorwort mit, ist bei Nachforschungen über seinen Großvater im Highland Archive Centre in Iverness auf den Fall gestoßen, der zu seiner Zeit Furore machte, und hat als seine Hauptquelle das Manuskript entdeckt, in dem der Angeklagte auf Anraten seines Rechtsbeistandes von der Vorgeschichte seiner Tat berichtet und diese selbst beschreibt.
Ein Mord ist geschehen - wer hat ihn begangen? Dieser Spannungsgenerator wird hier gleich zu Beginn ausgeschaltet. An seine Stelle tritt die Frage, warum die Morde geschehen sind. Aus ihr muss nun alle Spannung hervorgehen, und damit das möglich wird, müssen die Motive des Täters ebenso schwer dingfest zu machen sein wie ein flüchtiger Mörder, der alle Spuren hinter sich verwischt hat. Graeme Macrae Burnet hat nicht vergeblich in Glasgow studiert. Er weiß, wie er die drei Hebel des Transformators bedienen muss, der die Whodunit-Spannung in die Whydunit-Spannung verwandelt.
Der erste Hebel ist das historische Archiv selbst. Es kennt keine lebendigen Zeugen, es kennt nur Dokumente, deren Status sich in Zweifel ziehen lässt. Und damit kommt die Quellenkritik als Spannungsgenerator ins Spiel. Wer garantiert, dass der Leser dem Geständnis, das im Manuskript des jungen Roderick "Roddy" Macrae niedergelegt ist, trauen kann? Könnte es nicht gefälscht sein, zum Beispiel vom Rechtsbeistand des Angeklagten? Und außerdem: Keine Quelle ist im Archiv mit sich allein. Die Dokumente mit den zeitgenössischen Zeugenaussagen, die Zeitungsausschnitte, die medizinischen Gutachten über die Leichen und die Prozess-Protokolle umgeben die Hauptquelle mit einem Stimmengewirr, in dem der Schein der Eindeutigkeit des Geständnisses verfliegt.
Der zweite Hebel, den Graeme Macrae Burnet bedient, entstammt den Wissenschaften vom Menschen. Sie sind es, die seit dem 19. Jahrhundert mit Hochdruck daran arbeiten, die Handlungsmotive der Menschen in flüchtiges Wild und selbst rückhaltlose Geständnisse in Rätsel zu verwandeln. Sie trauen keiner Selbstauskunft, stellen Fragen wie diejenige, die der Rechtsbeistand Mr. Sinclair seinem Schützling stellt: "Halten Sie es für möglich, Roddy, dass ein Verrückter überzeugt ist, er sei bei klarem Verstande?"
Archaische Traditionen und moderne Zeit liegen miteinander im Streit
In der Frage verbirgt sich das Plädoyer auf Unzurechnungsfähigkeit, die psychische Trennung des Täters von der physischen Tat, die er selbst gestanden hat. Die Wissenschaften vom Menschen sind in diesem Kriminalroman ebenso eindeutig lokalisiert wie das Geschehen selbst. Intensiv hat sich sein Autor mit den Degenerationstheorien und Täterprofilen der frühen Kriminalpsychologie befasst, seine Gutachter hat er realen Begründern der Disziplin nachgebildet.
Aus dem Modell, dem er beim Hantieren an den Hebeln der Whydunit-Spannung folgt, macht Graeme Macrae Burnet kein Hehl. Es ist der historische "Fall Rivière", den Michel Foucault in einem Archiv in Caen entdeckt, zum Gegenstand eines Seminars gemacht und dann samt Verhör- und Prozessprotokollen, Zeitungsberichten, medizinischen und psychologischen Gutachten und vor allem mit dem "Memoire" des Täters veröffentlicht hat, der 1837 mit einer Sichel seine Mutter und zwei Geschwister getötet hatte.
Der junge Roderick "Roddy" Macrae hat nicht eigene Familienmitglieder getötet, sondern den Nachbarn, dessen Tochter, die nur wenig jünger war als er selbst und die er vergeblich zu erobern gehofft hatte, und dessen dreijährigen Sohn. Dieses Nachbarschaftsdrama ist der dritte Hebel, den der Autor in Bewegung setzt. Mit ihm holt er den Dorfroman des 19. Jahrhunderts in seine Archivfiktion, eine Geschichte von Herren und Knechten, Kleinbauern, die als Pächter von ihren Gutsherren abhängig sind. Und die Nahsicht auf die blutige Tat.
Alte Gewohnheitsrechte gehen verloren, neue Normen der Effektivität ziehen ein, der Konflikt zwischen archaischen Traditionen und moderner Zeit lässt das böse Blut aufschäumen. Hinter den alten Dokumenten zeichnet sich die Sozialgeschichte der Kleinbauern in den schottischen Highlands ab. Diesen dritten Hebel bewegt Graeme Macrae Burnet mit so viel Herzblut, dass der Kriminalroman gegenüber dem Dorfroman nicht immer das letzte Wort behält. Dann treten die Risiken hervor, die der Kriminalroman eingeht, wenn er die Whodunit-Spannung ausschlägt.