Historische Weltpolitik:Alte Feinde

Orlando Figes

Der britische Historiker Orlando Figes ist Professor für russische Geschichte an der University of London.

(Foto: Hanser Verlag)

Der Historiker Orlando Figes über die postimperialen Phantomschmerzen Russlands und der Türkei und ob ein neuer Krieg droht.

Interview von Sonja Zekri

Russland und die Türkei haben furchtbare Kriege gegeneinander geführt. Entsprechend groß sind die Sorgen heute, seit sich die einstigen Supermächte nach dem Abschuss eines russischen Jets über der Türkei in einer dramatischen Eskalation gegenüberstehen. Der Historiker Orlando Figes hat frühere Konfrontationen eindrucksvoll wie kaum ein anderer beschrieben. Vor allem sein Buch "Krimkrieg - Der letzte Kreuzzug" analysiert wahre und vorgeschobene Kriegsursachen.

SZ: Inwiefern ist die aktuelle Konfrontation zwischen Russland und der Türkei die Neuauflage einer alten Feindschaft?

Orlando Figes: Insgesamt würde ich das nicht überschätzen. Aber manche Züge der derzeitigen Situation kann man durchaus als Ausdruck einer generellen Rivalität um Syrien und den Nahen Osten sehen, dass Russland in Syrien die turkmenischen Gebiete angreift, beispielsweise. Russland hat durch seine Intervention in Syrien die türkische Strategie dort deutlich geschwächt. Und, ja, es spielt eine Rolle, dass die Türkei als Nato-Mitglied Russland provoziert. Darin immerhin kann man eine Parallele zum Krimkrieg sehen oder besser gesagt, ein fernes Echo des Jahres 1853.

Im Krimkrieg standen das Osmanische Reich, Frankreich und Großbritannien Russland gegenüber.

Russland hatte die Türkei bedroht und bedrängt wegen Streitigkeiten auf dem Balkan und im Kaukasus. Und die Türkei versuchte damals, die westlichen Mächte auf seine Seite gegen Russland in den Krieg zu ziehen. Zumindest war dies in Großbritannien eine verbreitete Sorge.

Weil London nicht an der Seite eines islamischen Landes gegen ein christliches Land in den Krieg ziehen wollte oder weil es einen Krieg gegen Russland fürchtete?

Beides. Königin Victoria hielt es für unglücklich, wenn die Briten für ein islamisches Land gegen ein christliches Land kämpfen würden. Nachdem Russland die türkische Flotte in der Schlacht von Sinope im Schwarzen Meer zerstört hatte, dachte sie, es wäre doch verdammt praktisch, wenn Russland die Türkei gleich ganz erledigen würde. Dann könnten die Türken Großbritannien nicht in diesen Konflikt verwickeln. Eher pazifistisch gestimmte Briten wie Premierminister George Aberdeen wiederum durchschauten, wie sehr die Türkei Russland provozierte, um die westlichen Mächte in den Krieg zu ziehen. Aber die Türkei wird die Nato vermutlich nicht in einen Konflikt mit Russland verwickeln.

Sie beschreiben Russland in Ihrem Buch über den Krimkrieg als religiös am meisten fanatisierte Macht im damaligen Europa. Der Zar betrachtete es als seine Mission, den bedrängten Christen im Osmanischen Reich beizustehen. Heute ist davon nichts mehr zu spüren. Wenn eine Politik religiös motiviert ist, dann eher die der Türkei.

Aber die religiösen Fragen sind nicht weit entfernt. Russlands Intervention in Syrien erklärt sich auch dadurch, dass die russische Bevölkerung zu 20 Prozent islamisch ist, es gibt genügend Informationen darüber, dass die Kämpfer des "Islamischen Staates" zwischen dem Kaukasus, Syrien und Irak pendeln. Russlands lange christlich-islamische Grenze reicht vom Schwarzen Meer durch den Kaukasus bis nach Zentralasien. Aber Präsident Putins religiöse Rhetorik ist natürlich bei Weitem nicht so stark wie im 19. Jahrhundert, als der Zar die Christen von der osmanischen Herrschaft befreien wollte.

Damals brach der Krieg nach einem Streit über Pilgerstätten im Heiligen Land aus. Heute entzündet sich der Konflikt erneut im Nahen Osten. Zufall?

Zwei Staatschefs spielen heute stark mit einem autoritären Nationalismus, mit dem Erbe einer postimperialen Politik. Das osmanische Erbe ist für die Türkei heute ebenso wichtig wie das Russische Reich für Putin. Und Syrien, der Nahe Osten, ist eine Art Arena, wo solche imperialen Ansprüche und der Groll über vergangene Niederlagen ausgespielt werden. Der Zusammenstoß wegen Syrien hat mindestens so viel mit den inneren Angelegenheiten beider Länder zu tun wie mit außenpolitischen Allianzen oder Strategien in Syrien.

Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan gelten als neoautokratisch, aber pragmatisch. Wie viel 19. Jahrhundert steckt tatsächlich in ihnen?

Zumindest Putins Außenpolitik ist ziemlich klassisches 19. Jahrhundert. Er will, anders als oft behauptet, nicht die Sowjetunion wiederherstellen. Seine Strategie, soweit erkennbar, ähnelt jener von Zar Nikolaus I. Ihm geht es darum, dass Russlands Nachbarn schwach und zerrissen sind. In der Ukraine hat Putin dies zweifellos erreicht, so wie Nikolaus I. alles tat, damit das Osmanische Reich schwach und zerrissen war, etwa indem er die christlichen Minderheiten als ständige Bedrohung für das türkische Reich einsetzte. Vermutlich hätte er das Osmanische Reich 1829 besiegen und aufteilen können, aber er entschied sich dagegen. Auch heute will Russland die Ukraine nicht aufteilen, sondern eher einen Zustand der Schwäche und inneren Zersplitterung aufrechterhalten, einen dysfunktionalen Staat. Es geht um Kontrolle, zumindest um Einfluss.

Viele Wissenschaftler erklären Russlands Politik als Folge eines postimperialen Phantomschmerzes. Der Verlust des Supermacht-Status und der sowjetischen Nachbarstaaten sind Punkte, die jederzeit zur Mobilisierung der Massen eingesetzt werden können.

Das Problem liegt viel tiefer. Russland leidet nicht nur am postimperialen Syndrom, sondern daran, dass es nie eine Nation war, ohne zugleich ein Imperium zu sein. Es wuchs durch innere Kolonisierung und expandierte dann über die russischsprachigen Gebiete hinaus. Boris Jelzin versuchte 1991 vergeblich, die Russen zum Nationalstaat zu erziehen auf republikanisch-föderaler Grundlage. Aber das ist fast unmöglich, denn die Russen haben gar keine Tradition, sich selbst als Nationalstaat im Sinne des 19. Jahrhunderts zu sehen, sondern nur als Imperium. Deshalb sehen die meisten Russen die Ukrainer als jüngere Mitglieder der russischen Familie, wie Putin es selbst dauernd formuliert mit seiner Rhetorik vom "Brudervolk". Russland betrachtet den postsowjetischen Raum nicht als Ausland, es hat große Schwierigkeiten damit, die territoriale Souveränität der Ukraine zu akzeptieren. Auch das autoritäre Herrschaftssystem in Russland ist eine Folge dieses Defizits. Für die Demokratisierung sind Institutionen und intellektuelle Traditionen nötig, die den Nationalstaat in Begriffen wie Parlament und Verfassung denken. Dies alles gab es nicht.

Die ganze ultranationalistische Rhetorik in Moskau hat mit der russischen Nation gar nichts zu tun?

Nein, das ist alles imperial, nicht national. Wenn man unter "national" den Ausgleich zwischen verschiedenen Gruppen begreift mit Verfassung und Parlament in einem Gebiet, in dem auch Minderheiten friedlich leben können, dann trifft dies auf Russland nicht zu. Die nationalistische Rhetorik der Kosaken-Freiwilligen, die in die Ostukraine stürmen, die Kirche, die all dies stützt - das ist alles imperial. Putin gießt Öl ins Feuer, wenn er davon spricht, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion eine Katastrophe war, dass der Westen seine Versprechen nicht gehalten hat und die Nato expandiert. Nach dem Abschuss des russischen Kampfflugzeugs hören wir diese Dolchstoßrhetorik erneut: das verlorene Imperium, zu Fall gebracht durch Verschwörer-Gruppen innerhalb des Landes im Dienste ausländischer Mächte.

Gibt es denn kein Land, das der Ex-Supermacht als Vorbild dienen könnte?

Wahrscheinlich nur die Türkei. Der Nationalist Atatürk hat die Türkei als Nation nach dem Ende des Osmanischen Reiches wiedererschaffen. Aber auch hier ist das imperiale Bewusstsein sehr ausgeprägt.

Russland hat bereits erklärt, dass es auf den Abschuss seines Jets nicht militärisch antworten will, sondern durch Sanktionen. Also doch kein Krieg?

Die westlichen Sanktionen gegen Russland wegen der Annexion der Krim haben Putin sehr getroffen. Mir scheint es, als wolle er dies nun zurückzahlen. Gegen den Nato-Partner Türkei ist Moskau nun moralisch im Recht, nun will Putin zeigen, dass er ebenfalls Sanktionen verhängen kann. Auch dies scheint mir vor allem auf den Hausgebrauch zu zielen, auf die Russen, denen er zeigt: Russland kann auch hinlangen. Ob das einen großen Effekt in der Türkei hat, weiß ich nicht. Aber so ist es ja oft bei Wirtschaftssanktionen. Sie sind eine symbolische Strafe, die Schlagzeilen bringt und Staatschefs nützt, die nicht in den Krieg ziehen wollen.

Also kein Dritter Weltkrieg wegen Syrien?

Die Situation in Syrien hat mehr mit den Balkan-Kriegen in den Neunzigern zu tun als mit Europa am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Man sollte die historischen Parallelen nicht überstrapazieren.

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