Süddeutsche Zeitung

Historische Graphic Novel:Schicksal einer Schabe

Der Comic-Künstler Pascal Rabaté erzählt eine klassische Überlebensgeschichte in chaotischer Zeit, den Jahren nach 1917 in Russland: "Der Schwindler" nach Alexej Tolstois Roman.

Von Fritz Göttler

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, stöhnt Semjon, als er mal wieder ganz unten ist in seiner Karriere, auf einer Polizeiwache, bei einem knallharten, unerbittlichen Verhör: "Meine Geschichte ist ungewöhnlich ... so einzigartig." Das ist sie natürlich nicht, Semjons Schicksal gleicht Tausenden, Hunderttausenden anderen, sie ist nur ein bisschen verrückter, verdrehter, skrupelloser. Es ist eine klassische Überlebensgeschichte in chaotischer Zeit, den Jahren nach 1917 in Russland - der Rest eines Weltkriegs, Revolution und Bürgerkrieg, ausländische Heeresgruppen auf russischem Gebiet, der Vormarsch und der Terror der Bolschewiki, die Flucht der Bürger und Adeligen, erst nach Charkow in der Ukraine, dann weiter nach Odessa, schließlich nach Istanbul, auf einem Dampfer, der für manche eine Arche Noah ist.

Der Reichtum wird kommen für Semjon, "wenn die Welt in Feuer und Blut vergeht."

Der russische Romanschreiber Alexej Tolstoi hat die turbulenzenreiche Geschichte des Semjon Iwanowitsch Newsorow in seinem Roman "Ibykus" erzählt, der 1923 erschienen ist. Seine eigenen Erlebnisse sind darin reflektiert, erst die Gegnerschaft zu den Bolschewiki, dann Exil in Paris und Berlin, nach der Rückkehr wurde er ein hoher sowjetischer Funktionär. Der Comic-Künstler Pascal Rabaté hat eine gewaltige Graphic Novel daraus gemacht, die in mehreren Bänden zwischen 1998 und 2001 in Frankreich erschien und nun in einer deutschen Fassung herausgekommen ist. Das Epische ist ungewöhnlich für Rabaté, man kennt (auch bei uns) seine Comic-Chroniken des französischen (Klein-)Bürgertums ("Rein in die Fluten!"), auch einen Film hat er gedreht, "Holidays by the Sea", in der Tradition von Tati.

Semjon ist ein Getriebener, von einer Prophezeiung in Trab gesetzt, wie der unglückliche Macbeth. Eine Zigeunerin deutet ihm eine rasante Zukunft an, "wenn die Welt in Feuer und Blut vergeht, wenn der Krieg in die Häuser der Menschen kommt, wenn der Bruder den Bruder tötet". Ein Kriegs-, ein Chaosgewinnler: "Du wirst unerhörte Abenteuer erleben und ungeheuer reich sein ... Du bist nur eine Schabe, aber du stehst im Zeichen des Ibykus, des sprechenden Totenkopfes."

Schnell legt der Hasardeur Semjon los, in Petrograd, 1917. Er lässt seine schäbige Existenz als Beamter hinter sich, treibt sich an Spieltischen herum, bei Frauen, schnupft Kokain, hat eine intensive, verzehrende Liebe zu Allotschka, bringt einen Buchhändler um und greift sich sein Geld - da liegt der Schatten von Dostojewskis Raskolnikow über ihm. Mit einem Spießgesellen zieht er ein Bordell auf - die Zuhälterei wird ihn immer wieder retten auf seiner abenteuerlichen Fahrt -, nach einer Razzia verlieren die beiden alles wieder. Semjon geht aufs Land, versucht sich als Gutsherr und Graf, aber die Bauern zünden ihm sein großartiges Schloss an. Auch im Pelzschmuggel und im Handel mit Schuhcremedosen versucht er sich, und wird als Spitzel vom Geheimdienst angeworben.

Er erlebt die Gemeinheit, die Verzweiflung, den Hunger der Bevölkerung, als er in ein Dorf einreitet, wird er ungemein gastfreundlich empfangen, weil er Nahrung mit sich bringt, und sein Pferd wird gleich mit einem Hammerschlag getötet. Ein anderes Dorf ist menschenleer, die Bewohner sind alle an Telegrafenleitungen aufgeknüpft.

Es ist ein aufregendes historisches Werk, das Pascal Rabaté geschaffen hat, auf mehr als 500 Seiten, schwarz-weiß, die Schauplätze wechseln von dicht gedrängten Salons und Hinterzimmern zu erschreckend leeren, weiten Landschaften, von gotisch-expressionistischen Konturen und Perspektiven in aquarellierte, hingetuschte Orte der Verlorenheit. Das Buch zeigt in seiner Anschaulichkeit, was in den Geschichtsbüchern mit ihren Fakten und ihrer Akkuratesse fehlt, die Körper der Menschen und die Dekors, die ihre Welt ausmachen und in denen sie sich bewegen. Und, worum die Geschichtsbücher sich nicht kümmern, nämlich das Vergehen der Zeit. Wie die Zeit die eigentliche Materie des Erzählens bildet.

Auch in den monströsesten Momenten hat Semjon eine (manchmal böse) Unschuld

Der deutsche Titel "Der Schwindler" liefert eine Art Vorverurteilung seines Helden. Die opportunistische Schabe Semjon gehört in Wirklichkeit zu den großen Naiven der Weltliteratur, in der Tradition des Simplicissimus. Ein Bürger von der traurigsten Gestalt, dürr und mit lang gezogenen Armen wie Karl Valentin oder Conrad Veidt in "Caligari", eine hohe Stirn und ein Spitzbart, der ihm das Kinn geradezu einzwängt. Er krümmt sich und buckelt, duckt sich weg, macht eine Kehrtwende, wenn er unliebsame Leute ihm entgegenkommen sieht. Die Pupillen in den Augen wandern von Einstellung zu Einstellung, ihre Position macht seine augenblickliche Stimmung aus, unnachsichtig, launisch, berechnend. Und manchmal hat er ein blaues Auge und hat nur einen Wunsch: "Schlafen und bitte bitte nicht träumen ..." Flach ausgestreckt liegt er da, wie ein Gekreuzigter, auf der karierten Decke seines Hotelbetts.

Allotschka hat, kurz bevor sie in den Wirren der Revolution verschwand, ein Bild von Semjon gemalt, in einer Nacht voller Sex und Rauschgift, das spukt durch die Erzählung. Ein langes, schmales Bild, das sich seinem Körper anschmiegt. In der Tradition der alten Ikonen, Semjon, der Erlöser. Ein Messias als Marionette.

Das Buch ist ein Totentanz, dessen Fratzen sich immer wieder zu Totenschädeln deformieren - aber auch in den monströsesten Momenten hat Semjon eine (manchmal böse) Unschuld. "Semjon Iwanowitsch ist unsterblich", schreibt Tolstoi auf der letzten Seite des Romans, die Rabaté reproduziert: Er selbst ist der Ibykus. Sehnig, zäh, innerlich verhärtet, wird er immer imstande sein, sich einer misslichen Lage zu entziehen ... Er hat erklärt, er sei ein König des Lebens." Auch die alte Frau hat es gewusst mit ihrer Prophezeiung: "Deine Geschichte holt dich ein, lauf! "

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Quelle:
SZ vom 27.11.2018
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