Historische Fotos koloriert:Lenins rote Wangen

Historische Fotos koloriert: Unretuschiert und in Farbe: der Begründer der Sowjetunion Wladimir Iljitsch Lenin mit rotem Haarschopf.

Unretuschiert und in Farbe: der Begründer der Sowjetunion Wladimir Iljitsch Lenin mit rotem Haarschopf.

(Foto: Color by Klimbim)

Mit dem Auge der Künstlerin und der Akribie einer Wissenschaftlerin koloriert die Russin Olga Schirnina alte Schwarz-Weiß-Fotos. Historische Figuren wie Lenin oder Goebbels erscheinen plötzlich erschreckend lebendig.

Von Paul Katzenberger, Moskau

Kaum ein Staatsführer ist so häufig abgebildet worden wie Wladimir Iljitsch Lenin. Trotzdem wissen nur die Menschen, die im begegnet sind, wie er wirklich aussah. Denn sein massenhaft verbreitetes Abbild in Form von Fotos, Gemälden, Statuen und Reliefs sollte ihn nicht als den Menschen Lenin sondern als den gottgleichen Begründer der Sowjetunion darstellen. "Das war alles Retusche", sagt Olga Schirnina, die sich mit Lenin-Fotos in den vergangenen Jahren intensiv auseinandergesetzt hat.

Dass der einstige Staatschef beispielsweise immer eine recht gesunde Gesichtsfarbe in Form roter Wangen und außerdem dunkel naturrotes Kopfhaar gehabt habe, sei vertuscht worden, führt die 58-Jährige als Beispiele an. "Denn das hätte ihn menschlicher erscheinen lassen, als es gewünscht war."

Doch Schirnina, die in der Sowjetunion mit dem Personenkult um den Staatsgründer aufgewachsen ist, hat einen Weg gefunden, dem Menschen Lenin zu begegnen: "Mit dem Zugang zu Archiven durch das Internet bin ich das erste Mal auf unretuschierte Schwarz-Weiß-Fotos von ihm gestoßen", erklärt sie.

So begann sie, besonders interessante Aufnahmen zu kolorieren. Das Ergebnis: Der Revolutionär weist auf Schirninas Bildern plötzlich eine Lebendigkeit auf, über die er in der Nachwelt bislang nicht verfügte.

Als eine ihrer gelungensten Kolorierungen des Arbeiter- und Bauernführers (siehe Bild oben) betrachtet die Moskauerin etwa eine Aufnahme aus den Beständen der einstigen DDR-Nachrichtenagentur ADN, die heute im Bundesarchiv liegt: "Da haben mir schon viele gesagt, dass ich Lenin auf diesem Bild wieder zum Leben erweckt hätte", sagt Schirnina mit Stolz.

Lenin hatte die Augen eines Lemuren

Um den 1924 Gestorbenen bildlich zu revitalisieren, bedurfte es allerdings eines gehörigen Aufwandes. Allein um die Augenfarbe Lenins möglichst genau zu treffen, las sich die Moskauerin in die Berichte von Zeitzeugen ein, die Lenin tatsächlich begegnet sind.

Fündig wurde sie beim russischen Schriftsteller Alexander Kuprin, der Lenin 1918 getroffen hatte und dessen Erscheinungsbild in dem Essay "Momentaufnahme" eingehend beschreibt. Der Autor vergleicht die Augen seines Gegenübers darin mit dem Sehorgan eines Lemuren, den er im Sommer davor im Pariser Zoo gesehen hatte: "Also nicht einfach nur braun, sondern orange-braun", wie Schirnina klarstellt.

Lenin ist bei weitem nicht die einzige Figur der Weltgeschichte, die die Künstlerin, die unter dem Namen "Color by Klimbim" auftritt, per Kolorierung in die Gegenwart zurückholt. Auf ihrer Website und ihren Facebook- sowie Flickr-Gruppen finden sich Aufnahmen von Josef Stalin, Leo Tolstoi, Fjodor Dostowjewski, Anton Tschechow und Zar Nikolaus II.. Auch Kolorierungen von Mata Hari und zahlreichen Hollywood-Größen wie Grace Kelly, Marlene Dietrich oder Greta Garbo gibt es zu sehen.

Olga Schirnina

Olga Schirnina vor ihrem Haus in Moskau. Durch das Buch "Farbenlehre für Floristen" von Dieter Holzschuh stieß sie auf die Farbenlehre. Inzwischen koloriert sie nicht nur für sich, sondern auch für Auftraggeber aus der internationalen Industrie.

(Foto: Color by Klimbim)

Die gespenstige Fröhlichkeit des Josef Goebbels

Josef Goebbels

Mit Farbe in die Gegenwart geholt: Reichspropagandaminister Josef Goebbels bei einer Sitzung des Völkerbundes 1933 im Hotel Carlton in Genf.

(Foto: ALFRED EISENSTAEDT; Color by Klimbim)

Einen Schwerpunkt ihrer Arbeit bilden jedoch die Zaren-Familie der Romanows, sowie der Erste und Zweite Weltkrieg. Unter Schirinas Kolorierungen, die sie seit 2014 auf ihrer Internetseite veröffentlicht, findet sich auch eine Porträt-Aufnahme von Josef Goebbels aus dem Jahr 1933, die eine gespenstische Fröhlichkeit des Reichspropagandaministers suggeriert.

Das Hineinholen eines Massenmörders in die Gegenwart durch Farbe kann allerdings auch den gegenteiligen Effekt haben: Auf der nachkolorierten Aufnahme Josef Stalins vom 16. Parteitag der KPdSU vom Juni 1930 wirkt dieser mit der Pfeife in der Hand wie ein gemütlicher Kerl. Dabei streiten sich bis heute Historiker darüber, wer der größere Massenmörder des 20. Jahrhunderts war: Stalin oder Hitler.

Geweckt worden sei ihre Leidenschaft für Kolorierungen durch einen Auftrag, den sie noch in ihrem früheren Hauptberuf als Übersetzerin aus dem Deutschen erhalten habe, erzählt Schirnina: "Ich sollte das Buch "Farbenlehre für Floristen" von Dieter Holzschuh ins Russische übertragen, und das hat in mir etwas berührt. Denn schon als Jugendliche habe ich gerne gezeichnet - doch ich konnte damals nicht richtig mit den Farben umgehen."

Holzschuhs kompaktes Buch habe ihr auf kaum 100 Seiten ein Verständnis für die Farbenlehre, die Komplementärfarben sowie die Kontraste und Harmonien zwischen Farben verschafft, das sie vorher nicht gehabt habe. "Diese Kenntnisse wollte ich ausbauen, und so kam ich auf das digitale Kolorieren von Fotos."

Prompte Kritik der Experten

Bald begann Schirnina, sich online mit anderen Koloristen auszutauschen. Sie lernte viel, musste allerdings auch einiges einstecken: "Was zum Beispiel die Farben der Uniformen angeht, war ich am Anfang noch ein bisschen leichtsinnig. Doch das habe ich mir schnell abgewöhnt", erinnert sie sich. Denn im Netz gebe es Experten, die ihre Kritik prompt äußerten, wenn auch nur kleinste Details ihrer Meinung nach nicht stimmten. "Da habe ich sofort die heftigste Kritik zu spüren bekommen, die es nur geben kann. Da kamen dann Leute, die beanstandeten, dieser Knopf darf nicht gelb, sondern muss weiß sein. "Ich habe dann gesagt: 'Ich habe das nicht gewusst. Helft mir!'"

Tatsächlich habe sie diesen Beistand daraufhin von Experten und Militärhistorikern bekommen. Kritik an den Farben der Uniformen gebe es nicht mehr, denn da würde inzwischen nach bestem Wissen alles stimmen.

Und so kommen durch die Begeisterung einer Hobby-Malerin für Farben kombiniert mit digitaler Technik und der Schwarm-Intelligenz des Netzes historische Fotografien zustande, die den Betrachter anspringen, als seien sie erst gestern entstanden.

Historiker sind darüber nicht immer glücklich. Ihrer Vorstellung von Wissenschaft entspricht der streng dokumentarische Charakter eines Schwarz-Weiß-Bildes oft eher als die Unmittelbarkeit eines hinterher eingefärbten Fotos. "Da gibt es Leute, die finden Kolorierungen vulgär", sagt Schirnina, die sich an dieser Kritik nicht stößt. Das Internet sei schließlich groß genug, um jedem zu ermöglichen, das zu finden, was ihm speziell gefalle.

Allerdings haben sich Schwarz-Weiß-Bilder im kollektiven Gedächtnis fest als Darstellungen von etwas eingegraben, das tatsächlich stattgefunden hat. Diesen Effekt setzen etwa Filmregisseure ein, wenn sie ihre fiktiven Spielfilme in Schwarz-Weiß drehen, um damit auf die wahre Begebenheit hinzuweisen, auf der sie beruhen.

Steven Spielberg nutzte das in seinem Oscar-prämierten Holocaustdrama "Schindlers Liste" von 1993 ebenso aus wie zuletzt Emily Atef in dem Kammerspiel "3 Tage in Quiberon" über das letzte große Interview Romy Schneiders Anfang der 1980er-Jahre.

Farbfotos zu Propagandazwecken

Doch möglicherweise steckt in den nachkolorierten Schwarz-Weiß-Fotografien ein ganz eigener Wahrheitsanspruch. Denn im Vergleich zu den originalen Farbfotos, die etwa Briten und Deutsche im Zweiten Weltkrieg zu Propagandazwecken schossen, zeigten die damaligen Schwarz-Weiß-Fotos viel eher Alltagsszenen.

Das liegt auch daran, dass anders als bei der Schwarz-Weiß-Fotografie Schnappschüsse in Farbe damals nicht möglich waren - die Belichtungszeit für die Filme war vergleichsweise lang, wie der österreichische Foto-Historiker Anton Holzer erklärt: "Kampfszenen und schnelle Bewegungen kommen nicht vor." Damalige Kleinbild-Kameras wie die Leica oder die Contax hätten hingegen schon Bilder mit Belichtungszeiten im Hundertstel-Sekunden-Bereich machen können, wenn sie mit Schwarz-Weiß-Filmen bestückt waren, sagt der Experte, der die Zeitschrift Fotogeschichte herausgibt.

Und so kann es durchaus sein, dass der Reichspropagandaminister Josef Goebbels kaum je lebensechter und lebendiger zu sehen sein wird, als auf der von Olga Schirnina kolorierten Aufnahme von Genf im Jahr 1933.

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