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Historiendrama "Selma" über Martin Luther King:Hier wird ein großartiger Schauspieler übergangen

Ihr Film "Selma" über Martin Luther King wird überschwänglich gelobt, doch weder Regisseurin Ava DuVernay noch Hauptdarsteller David Oyelowo sind für den Oscar nominiert. Ein Gespräch mit beiden über Strippenzieher in Hollywood und Deutschland als Vorbild.

Von Paul Katzenberger

Ihren größten Erfolg feierten Ava DuVernay und David Oyelowo erst vor kurzem, als sie beide im Dezember 2014 für einen Golden Globe nominiert wurden: DuVernay in der Kategorie "Beste Regie" und Oyelowo als "Bester Schauspieler", beide für das Historiendrama "Selma". Der Film über den schwarzen Bürgerrechtlicher Martin Luther King wurde ebenfalls für einen Golden Globe vorgeschlagen - als bestes Drama.

Auch für den Oscar als bester Film liegt "Selma" in diesem Jahr im Rennen, doch die Regisseurin und der Schauspieler wurden selbst nicht nominiert. Das stieß auf Unverständnis, denn besonders Oyelowos Darstellung von King löste bei vielen Kritikern Beifallsstürme aus - und ist in der Tat großes Kino. Könnte es sein, dass sie sich in dem Film zu weit vorgewagt haben? Das ist die Frage, die nun kurz vor der Oscar-Verleihung zu einer unbequemen Diskussion für die Academy geführt hat.

SZ.de: Frau DuVernay, "Selma" ist der erste abendfüllende Spielfilm über Martin Luther King, der je gedreht wurde. Dabei ist King schon seit 50 Jahren tot. Können Sie sich erklären, warum es so lange gedauert hat?

Ava DuVernay: Ich weiß es nicht. Es ist zu verrückt. Vielleicht wollen sich in Amerika die Entscheider im Filmgeschäft nicht zu schwarzen Protagonisten bekennen. Zumal, wenn ein Schwarzer gezeigt wird, der mit Macht ausgestattet ist.

Aber Amerika hat inzwischen einen schwarzen Präsidenten. Dessen Machtfülle ist doch kaum zu überbieten.

David Oyelowo: Durch Obama hat sich ja auch schon einiges verändert. Wenn der mächtigste Mann der Welt ein Schwarzer ist, dann wird es schwieriger, solchen Themen aus dem Weg zu gehen. Ich selbst bin ein Nutznießer dieser Entwicklung: "The Butler", "The Help", "Lincoln", "Red Tails" und jetzt "Selma", das sind fünf Filme zu dem Thema, an denen ich beteiligt war, und die es ohne diesen Präsidenten vielleicht niemals gegeben hätte.

Filme über die Sklaverei, wie etwa "Lincoln", gab es schon lange vor Obama. "Amistadt - Das Sklavenschiff" von Steven Spielberg kam 1998 in die Kinos und schon 20 Jahre davor lief "Roots" im Fernsehen.

Oyelowo: Und darin wird eine Entwicklung erkennbar. Zunächst werden Schwarze noch als unterwürfige Diener gezeigt, um nach und nach Figuren mit Führungsqualitäten darzustellen. In "Lincoln" ist der Protagonist noch weiß, in "The Help" ebenfalls. Bei "The Butler", "12 Years a Slave" oder "Red Tails" fängt schließlich an, was wir in "Selma" nun verwirklichen konnten: eine schwarze Führungsfigur mit Breitenwirkung zu präsentieren. Das hat es noch nie gegeben.

Spike Lee hat Malcolm X immerhin schon 1992 ein filmisches Denkmal gesetzt. Das war doch ein sehr starker Führer.

Oyelowo: Sprechen Sie mal mit Spike Lee über die Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hatte, um diesen Film auf die Beine zu stellen. Es muss unglaublich hart gewesen sein, all die Widerstände zu überwinden, mit denen er konfrontiert wurde. Jetzt haben wir eine andere Situation: Wir können uns tatsächlich Hoffnungen machen, dass all die Ausreden, die vorgebracht werden, solche Filme nicht zu produzieren, immer hohler klingen.

Welchen Ausreden sind Sie begegnet?

DuVernay: Die typische Ausflucht der Entscheider im Filmgeschäft lautet: 'Die Leute wollen kein Geld dafür bezahlen, sich solche Filme anzusehen.' Doch das stimmt nicht. Unser Film hat in den USA in weniger als zwei Monaten 50 Millionen Dollar eingespielt. Für einen Historienfilm, der nur 20 Millionen Dollar gekostet hat, ist das ein sehr gutes Ergebnis. Trotzdem haben die Strippenzieher in Hollywood immer noch nicht verstanden, dass sie ein bunt gemischtes Publikum vor sich haben, das unterschiedliche Geschichten sehen will, und nicht ständig einen Aufguss der immergleichen Story.

Mit einer Identifikationsfigur wie Malcolm X, der zur Gewalt aufrief, hätten Sie auch im Jahr 2015 viele Kinobesucher provoziert. Martin Luther King ist als gewaltloser Freiheitskämpfer hingegen eine Heiligenfigur à la Gandhi. Mit so einem Protagonisten Erfolg zu haben, muss nicht automatisch bedeuten, dass Amerika bereit ist für das schwierige Thema der Rassendiskriminierung.

Oyelowo: Amerika ist nicht nur bereit für dieses Thema, es ist sogar so, dass wir den Durstigen Wasser geben. Denn Amerika sucht nach Bezügen, die uns zeigen, wo wir stehen. Obwohl Martin Luther King schon vor 50 Jahren den Tag prophezeite, an dem ein Schwarzer Präsident werden würde, schien das 1965 wahnsinnig weit weg zu sein. Nun ist diese Situation eingetreten. Für die Macher in Hollywood wird es dadurch schwerer, uns schwarzen Filmemachern das Recht abzusprechen, so einen Film verwirklichen zu wollen. Und wir erfahren im Augenblick jede Menge Solidarität von Weißen.

Und was ist mit der Rassendiskriminierung, die in Ferguson zum Vorschein kommt?

Oyelowo: Teile der amerikanischen Gesellschaft begegnen der Solidaritätsbewegung gegen das Vorurteil ohne Zweifel noch mit Skepsis. Doch manche dieser Leute öffnen sich möglicherweise auch durch unseren Film. Vielleicht fangen sie an, darüber nachzudenken, ob sie nicht indoktriniert wurden. Vielleicht sagen sie sogar: 'Hier wird mir etwas gezeigt, was ich schlicht und einfach nicht wusste.'

Wir Deutsche können Ihnen vielleicht sogar Hoffnung machen, dass sich Ihr Wunsch erfüllt. Dem Vierteiler "Holocaust", der Ende der Siebzigerjahre bei uns im Fernsehen lief, wird inzwischen eine große Bedeutung dafür zugeschrieben, dass breite Bevölkerungsteile anfingen, sich mit der Nazi-Vergangenheit des Landes auseinanderzusetzen.

Oyelowo: Die Auseinandersetzung mit der historischen Schuld ist in Deutschland beispielhaft. In Amerika sind wir leider noch nicht so weit, um sagen zu können: 'Das ist etwas, wofür wir Reue zeigen und die Aussöhnung suchen sollten. Und zwar nicht nur, weil das Unrecht selbst falsch war, sondern auch das Vermächtnis daraus.' Um zu dieser Haltung zu gelangen, brauchen wir nicht nur das Medium Film sondern auch die Bildung. Das ist das Großartige an "Selma": Der Film wird inzwischen auch als Lehrmittel eingesetzt, um zu zeigen, wer Martin Luther King war, und wie er zum Erfolg kam.

Von den meisten Kritikern haben Sie überschwängliches Lob für Ihre Darstellung Martin Luther Kings bekommen. Nach einhelliger Meinung hätten sie sogar einen Oscar dafür verdient. Doch Sie sind noch nicht einmal nominiert. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür?

Oyelowo: Wenn in der Institution, die über die Nominierungen entscheidet, Schwarze und Hispanics nur zu etwa zwei Prozent repräsentiert sind, dann brauche ich mich über die Nicht-Berücksichtigung nicht zu wundern.

80 Prozent der Academy-Mitglieder sind in der Tat ältere weiße Männer. Verhält sich dieses Kollektiv anonym rassistisch?

DuVernay: Natürlich spielt die Zusammensetzung der Academy eine große Rolle. Das, woran ein älterer weißer Herr interessiert ist, was er beklatscht, und was er für auszeichnungswert hält, das dürfte sich oft von dem unterscheiden, was mich interessiert. Doch es gibt leider nicht genügend Leute wie mich in der Academy und auch nicht genügend Leute wie David. Aber es geht gar nicht so sehr um die Academy, und es geht noch nicht einmal um "Selma"...

... Sondern?

DuVernay: Sondern um die Frage, warum "Selma" der einzige Film unter den 30 Beiträgen war, die für Oscar-reif gehalten wurden, der von Schwarzen gemacht wurde. Ein einziger Film.

Immerhin ging der Oscar für den besten Film im vergangenen Jahr an ein Sklaven-Drama, das Schwarze gemacht haben.

DuVernay: Korrekt. Aber wer war der Held in "12 Years a Slave"?

Der Sklave Solomon Northup, der in der Hauptrolle von Chiwetel Ejiofor dargestellt wird. Oder nicht? Schließlich beweist er einen starken Überlebenswillen und schafft es sogar, seine Odyssee in einem Buch zu verarbeiten.

DuVernay: Sein Durchhaltevermögen und sein Selbsterhaltungstrieb sind durchaus beeindruckend. Trotzdem ist der Film so konstruiert, dass Brad Pitt am Schluss den Helden spielt. "12 Years a Slave" ist ein Drama in drei Akten und Pitts Figur wird erst im Schlussakt eingeführt, um Northup zu retten. Als Dramaturgin sage ich: eine klassische Heldenfigur. Ejiofor spielt hingegen einen Helden, der über weite Strecken des Films ein Leidgeprüfter ist. Es gibt einen Unterschied, ob jemand 12 Jahre lang Opfer war oder 13 Jahre lang Held einer Bürgerrechtsbewegung wie Martin Luther King.

Aber Sie persönlich bezahlen nun beide offenbar einen Preis: Nicht selbst für den Oscar vorgeschlagen worden zu sein. Sie, Frau DuVernay, wären die einzige Frau unter lauter nominierten Männern gewesen. Sie, Herr Oyelowo, hätten mit ihrer gefeierten Darstellung von Martin Luther King einen entscheidenden Karriereschritt getan.

DuVernay: Irgendjemand muss diesen Preis bezahlen, und dass wir es nun sind, macht uns eher stolz. Denn unsere Nicht-Berücksichtigung bei den Oscars hat in der Öffentlichkeit inzwischen eine lebhafte Diskussion ausgelöst. Viele Menschen fragen sich: 'Was ist eigentlich los mit Hollywood?' Warum machen immer die gleichen Leute Filme? Warum spiegelt sich die Vielfalt der Gesellschaft nicht in dieser Branche wider? Damit diese zukunftsweisenden Fragen gestellt werden, brauchte es jemanden, von dem die Leute sagen: 'Moment mal, hier wird ein großartiger Schauspieler übergangen, der im Rampenlicht hätte stehen müssen.' Und dass genau das nun bei einem Film über Martin Luther King geschieht, empfinde ich als sehr bewegend. Denn gerade Dr. King stand wie kaum ein zweiter für Themen wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Würde.

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