Hip-Hop:Rekord-Musical: Wie der "Hamilton"-Hype die USA verändert

Lin-Manuel Miranda

Texter, Komponist, Musical-Revolutionär: Lin-Manuel Miranda als Alexander Hamilton.

(Foto: AP)

Barack Obama ist Fan, die Show für immer ausverkauft. Was das Hip-Hop-Musical über Gründervater Alexander Hamilton zur Sensation macht.

Von Julian Dörr

Man kann es sich jetzt schon vorstellen. Man möchte sogar darauf wetten. Dass eines Tages jemand kommt und diese Geschichte verfilmt. Eine Geschichte von Außenseitern, eine Geschichte von historischem Erfolg gegen alle Widrigkeiten. Die Geschichte von Lin-Manuel Miranda und "Hamilton". Ein Hip-Hop-Musical über einen der Gründerväter der USA hat den Kulturbetrieb eines ganzen Landes in Aufregung versetzt. Hat eigenhändig ein ganzes Genre revolutioniert, eine gesellschaftliche Debatte transformiert und einen popkulturellen Instant-Klassiker geschaffen. Präsident Obama ist Fan, die Show für immer ausverkauft (soll heißen bis Januar 2017), die Schwarzmarktpreise bewegen sich im Bereich einer Profi-Küche oder eines Kleinwagens. Wie konnte aus der Broadway-Show über Alexander Hamilton, den ersten Finanzminister der Vereinigten Staaten, nur solch ein Hype werden?

Zunächst einmal ist da eben Lin-Manuel Miranda, der Universalkreative hinter, vor und als "Hamilton". Richtig, Miranda hat nicht nur Handlung und Texte des Musicals geschrieben. Er hat auch die Musik komponiert und spielt als Alexander Hamilton die Hauptrolle. "Hamilton" ist Mirandas Baby. Und - das kann man wohl so sagen - sein Lebenswerk. Es steckt ja auch sein Leben drin.

"Hamilton" ist eine Selbstermächtigungsgeste der Stimmlosen

Miranda stammt aus einer puerto-ricanischen Familie, geboren und aufgewachsen in Washington Heights, Manhattan. Alexander Hamilton war ein Einwanderer aus der Karibik, der zur rechten Hand von George Washington aufstieg. Mirandas Musical erzählt also die Geschichte dieses "founding father without a father". Und tut doch noch so viel mehr. "Hamilton" ist eine Selbstermächtigungsgeste der Stimmlosen, der Übersehenen, der von der Historie Vergessenen. Und für dieses Musical hätte Miranda keine bessere Sprache finden können als den Hip-Hop, der einst einer ganzen Generation eine Stimme schenkte.

So etwas wie "Hamilton" hat man am Broadway tatsächlich noch nie gesehen. Eine Lektion in Revolution und Staatsgründung, gestanzt in Reime voller Tempo, Witz und pophistorischer Zitatfreude. So ist die Kongressdebatte zwischen Hamilton und seinem Rivalen Thomas Jefferson nicht nur Basislager für eine ausufernde Wikipedia-Expedition in das fiskale System der USA, sondern auch ein astreiner Battlerap.

Vom armen Waisenkind zum Porträt auf der 10-Dollar-Note. Alexander Hamiltons Geschichte ist eine zutiefst amerikanische Geschichte - erzählt von einem Cast so divers wie das Land selbst. Das ist der große Coup von Lin-Manuel Miranda: Er gibt den Außenseitern die Deutungshoheit über ihre Geschichte zurück - und macht "Hamilton" zu einem Migranten-Epos. Miranda selbst hat puerto-ricanische Wurzeln, Daveed Diggs, der sich in einer Doppelrolle als Marquis de Lafayette und Thomas Jefferson als schnellster Rapper auf dem Broadway profiliert, ist Afroamerikaner, Phillipa Soo, die Hamiltons Frau Eliza spielt, hat asiatische Vorfahren. Diggs als französischer Aushilfs-Revolutionär Lafayette bringt es auf den Punkt: "Immigrants: We get the job done."

Und was für einen Job. Die Show ist auf dem besten Weg ein Milliarden-Dollar-Unternehmen zu werden, ihre Stars sind zu Gast in allen Late-Night-Formaten des Landes, im Weißen Haus ist man auch aufgetreten. Einen Grammy und einen Pulitzer-Preis hat "Hamilton" schon gewonnen, bei den Tonys am Sonntag ist das Musical für 16 Preise nominiert. Das gab es noch nie. "Hamilton" ist so etwas wie die optimistische Antwort auf die #OscarsSoWhite-Debatte. Und es ist auch ein Spiegelbild der Obama-Administration.

Wer "Hamilton" sehen will, hat nur eine einzige Chance: die Lotterie

Eine Show für uns alle, eine Show über uns alle. Mit diesen Worten hat Präsident Barack Obama die "Hamilton"-Schauspieler im Weißen Haus begrüßt. Dort, wo am 12. Mai 2009 - vier Monate nach Amtsantritt des ersten schwarzen Präsidenten der USA - alles begann. Bei einer Gala-Veranstaltung stand der damals 29-jährige Miranda auf der Bühne, seine Hände umklammerten nervös das Mikrofon. Er arbeite an einem Konzeptalbum, sagte er, ein Hip-Hop-Album über den Gründervater Alexander Hamilton. Das Publikum brach in Gelächter aus, aber Miranda legte einfach los - mit einem Stück, das später zum Eröffnungssong des Musicals werden sollte. Nach und nach verstummten die Lacher. Das war kein Witz, da meinte es jemand verdammt ernst.

Um zu begreifen, wie irre der Hype um "Hamilton" in den USA geworden ist, muss man sich nur die Sache mit den Tickets anschauen. Reguläre Karten gibt es schon lange nicht mehr. Die Preise auf dem Schwarzmarkt kratzten jüngst an der 10 000-Dollar-Marke - ein Brancheninsider hatte bekannt gegeben, dass Lin-Manuel Miranda den Cast im Sommer verlassen werde. Wer "Hamilton" sehen will, hat nur eine einzige Chance: die Lotterie. Täglich werden 21 Tickets verlost - zum Preis von je zehn Dollar.

Anfangs fand diese Lotterie auf der Straße hinter dem Bühneneingang des Richard Rodgers Theatre statt. Miranda moderierte, Cast-Mitglieder und Gäste führten kleine Showeinlagen auf. Zu Halloween tanzten sie Michael Jacksons "Thriller" nach, an anderen Tagen parodierten sie Szenen aus "Hamilton". Diese sogenannten #Ham4Ham-Performances gingen viral, immer mehr Menschen kamen. Als die Ticketverlosung von "Hamilton" schließlich Verkehrsprobleme auf der 46th Street auslöste, wurde die Lotterie zu Beginn des Jahres digital. Und ließ erst einmal die Server zusammenbrechen.

Was wirklich erschreckend ist: Über "Hamilton" sind sich gerade alle - und zwar wirklich alle - einig. Demokraten und Republikaner, Musicalhasser und Broadway-Traditionalisten. Ein Autor der New York Times begann seine Kritik mit den schlichten Worten: "Ja, es ist wirklich so gut." Und weiter: "Ich will den Leuten nicht empfehlen, eine Hypothek aufzunehmen oder ihre Kinder zu vermieten, um an ein Ticket zu kommen. Aber 'Hamilton' mag es vielleicht wert sein."

Puh. Und was bleibt uns musicalskeptischen Pop-Snobs auf der anderen Seite des Atlantiks übrig? Wir müssen das Album zum Musical hören. Und dann wieder. Und wieder. Denn: Ja, es ist wirklich so gut.

How does a bastard, orphan, son of a whore and a /Scotsman, dropped in the middle of a /Forgotten spot in den Caribbean by providence /Impoverished, in squalor /Grow up to be a hero and a scholar?

"Hamilton" ist ein amerikanischer Traum. Und darin liegt auch schon das ganze Geheimnis seines Erfolgs. Denn amerikanische Träume sind grell, bunt und glitzernd. Aber sie sind selten wahr. Dieser ist es.

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