"Spiegel und Licht" von Hilary Mantel:Die Rehabilitation eines großen Bösewichtes

Hilary Mantel

Die preisgekrönte britische Schriftstellerin Hilary Mantel.

(Foto: Carlotta Cardana/CAMERA PRESS/la)

Hilary Mantels letzter Teil ihrer Thomas-Cromwell-Trilogie liest sich streckenweise etwas beschwerlich. Trotzdem ist ihr Abgesang auf den britischen Machtpolitiker jede Mühe Wert.

Von Meredith Haaf

Der Machtmensch, also jener Typus, dessen Wille zur Kontrolle weit über die eigenen Geschicke hinausgeht, weckt bei denjenigen, die von ihm betroffen sind, einen hermeneutischen Reflex: "Was will er wirklich?" Nicht selten wäre die Antwort wohl ein blankes "Mehr" - mehr Anerkennung, Information, Geld, Leute, die einem zuhören müssen - das gelegentlich unter dem Deckmäntelchen größerer Visionen daherkommt. Manch ein Machtmensch weiß über sich selbst vielleicht auch nicht so genau Bescheid.

Als Thomas Cromwell, der Geschäftsmann, Jurist und Kirchenreformer, der zwischen 1532 und 1540 dem Tudor-König Heinrich VIII. als Berater, Minister und schließlich Vizeregent diente, unter Hochverratsverdacht im Tower of London sitzt, schreibt er seinem Herren einen Brief. Hilary Mantel, die ihn und seine Welt in einer meisterhaften Trilogie imaginiert hat, lässt ihn im neuesten und letzten Teil "Spiegel und Licht" dem Rätsel, das er selbst ist, näher kommen: "Ich habe meine Wünsche nie begrenzt. Genau wie ich in meiner Arbeit nie nachgelassen habe, so habe ich nie gedacht: Genug, du bist nun belohnt."

Cromwell war eine Ausnahmeerscheinung seiner Zeit, der Sohn eines Schmieds, der es erst in Italien und Holland zu Geld brachte und sich dann in England Macht verschaffte. Er weiß, was ihm droht - und der Leser weiß, was ihm geschehen wird: Erst die Enteignung, dann die Enthauptung. Er hat selbst viele seiner Feinde auf diesen Weg gebracht, darunter Thomas Morus, die ehemalige Königin Anne Boleyn, zahllose Mönche und vermeintliche Verschwörer. Mantel lässt ihn nicht hadern, in der Welt der Macht gibt es keine falschen Ansprüche - nur die falsche Taktik. Zumal man argumentieren könnte, dass Cromwell in seinem Leben für Krone, Land und manche Mitmenschen deutlich mehr erreicht hat als für sich selbst.

"Die einzigen Dinge, an die er sich nicht erinnert, sind die, die er nie wusste."

Mehr als 2000 Seiten hat Mantel ihrem ehrgeizigen Protagonisten, der Welt der Tudors und der schweren Geburt der englischen Reformation in den vergangenen zehn Jahren gewidmet. Sie hat damit die Rehabilitation eines großen Bösewichtes der englischen Historie erreicht - insbesondere für Katholiken ist Cromwell eine Art Beelzebub. Für die ersten beiden Bände wurde sie jeweils mit dem Man-Booker-Preis ausgezeichnet, die Bücher verkauften sich weltweit über 50 Millionen Mal.

In "Wölfe" spannte sie die Ambitionen zweier Emporkömmlinge - Cromwell und Anne Boleyn - zusammen, deren Verlustängste den Boden bereiten für ein paranoides Gesetzeswerk, in dem schon Verräter ist, wer an eine Zeit nach dem König auch nur denkt. Zugang zu Heinrich VIII. zu haben, ist das ultimative Gut, und doch bleiben die beiden seiner Gunst ausgeliefert. "Falken" wiederum handelt von der Konkurrenz der beiden Spieler, Cromwell treibt Anne für seinen unzufriedenen König in den Abgrund, lässt dabei seinen Rachegelüsten freien Lauf und zementiert seine Kontrolle am Hof.

Am Beginn von "Spiegel und Licht" steht seine Macht im Zenit, doch das Buch ist von Anfang an die Geschichte eines Kampfs um Machterhalt und eines rapiden Absturzes. Noch deutlicher buchstabiert Mantel hier den Konflikt aus, der in gewisser Weise die Wurzel des sozialen Fortschritts ist: Was braucht einer, der etwas will, das die gesellschaftliche Ordnung für ihn nicht vorgesehen hat?

Die Antwort, die man aus der Lektüre der Trilogie mitnimmt, ist: ein gutes Gedächtnis, gute Leute, strategische Intuition, und ein kleines Messer griffbereit. Letzteres trägt Cromwell stets bei sich, fühlt er sich bedroht, berührt er kurz seine Brust: "Bei jemand anderem wäre es die Hand aufs Herz. Aber das ist es nicht."

Im ersten Kapitel stellt Mantel ihren Protagonisten noch mal kurz vor: "Dieselben schnellen Augen, derselbe stämmige, unerschütterliche Körper: dieselben Pflichten. (...) Um fünf steht er auf, betet seine Gebete, wäscht sich und bricht sein Fasten. Um sechs empfängt er Bittsteller, seinen Neffen Richard Cromwell neben sich. Master Sekretärs Barke bringt ihn nach Greenwich und zurück, nach Hampton Court, zur Münze und zu den Waffenkammern des Tower of London. Obwohl immer noch ein Bürgerlicher, ist er der zweite Mann Englands, da würden die meisten zustimmen." Manchmal trägt er einen getrockneten Zweig Rosmarin bei sich und schnuppert daran, als wäre es eine Gedächtnishilfe. "Aber alle wissen, das ist nur ein Spielchen. Die einzigen Dinge, an die er sich nicht erinnert, sind die, die er nie wusste." Er hat, das wird man später erfahren, die ungünstige Angewohnheit entwickelt, flapsig die Wendung "wenn ich König wäre" zu verwenden.

Der Alltag der Ränkespiele wird eintönig, man fragt sich, wie Machtmenschen das aushalten

Mit gewohnter sprachlicher Eleganz lässt Mantel die ferne Welt des 16. Jahrhunderts auferstehen. Nonchalant wird "Master Sekretärs Barke" erwähnt, als wäre das so geläufig wie ein Dienstwagen; andererseits tut sie uns den Gefallen, noch mal die Grundzüge von Cromwells Alltag zu erklären. In gewisser Weise ist diese Textpassage auch eine auktoriale Machtdemonstration Mantels, die etwas schräg steht zu dem restlichen Werk. Denn was die Cromwell-Trilogie stilistisch auszeichnet, ist die Erzählform, mit der die Figur Cromwell sich ständig selbst erhellt und wieder verdunkelt. Er erzählt sich stets selbst, ein sinnlicher Analytiker, der es rein ästhetisch zu schätzen weiß, wie das Profil des Königs "im Licht eines perfekten Morgengrauens" Kontur gewinnt, der Pfirsiche lieber hat als Aprikosen. Doch weil er eben ein Typ ist, der mehr sieht als das, was vor ihm passiert, ist seine Perspektive oft sehr umfassend. Weil er sich selbst dabei zuguckt, wie er handelt, aber nicht immer so genau sagen will, warum er das macht, ist sie überraschend. "Vorsicht, Sie sind gerade dabei, sich selbst zu erklären", warnt ihn ein Vertrauter, als er ausnahmsweise einer Abneigung einmal Luft macht.

Neben der Erzählung ist es natürlich rein technisch eine gewaltige Leistung, wie Mantel die komplexe Rechtsgeschichte, die diversen theologischen Strömungen, die englische Hoflyrik, ganz abgesehen von Hunderten echten und erfundenen Commoners, Diplomaten, Beamten, Adeligen, Hofnarren und Damen in eine Erzählung bringt. In den letzten vier Jahren von Cromwells Leben war er mit der ständigen Abwehr von Invasionen beschäftigt, mit der Suche nach neuen Bräuten für seinen Herrscher, mit der Unterdrückung von Aufständen und der Reformation der Kirche. Er musste die letztlich unglückliche vierte Ehe Heinrichs mit der deutschen Prinzessin Anna von Kleve arrangieren und sich dabei mit allerhand Erzfeinden herumschlagen. Um es anders zu sagen: Er hatte wenig eigenes Leben, kaum Freunde und kein Vergnügen. Die wenigen warmen Beziehungen pflegt er zu den jungen Männern seines Haushalts, historische Figuren, die Mantel über die Jahre zu extrem ausgereiften Figuren entwickelt hat.

In dieser Fülle liegt leider eine strukturelle Schwäche des Buchs: Es passiert zu viel, es sind zu viele Protagonisten, und es wird zu politisch - also nicht aufrichtig - gesprochen. Der Alltag der Ränkespiele wird zwischendurch etwas eintönig (man fragt sich, wie Machtmenschen das aushalten). Es ist nicht ersichtlich, wie Mantel um dieses Dilemma hätte herumkommen sollen - und die Dialoge sind glänzend geschrieben. Zudem fehlen ihr rein historisch die charismatischen Frauenfiguren Anne Boleyn und Katharina von Aragon, die Mantel in den ersten beiden Teilen so fein erzählt. An ihrer Stelle steht die schreckliche Maria Tudor. Aus Gründen, die ihm selbst nicht ganz klar sind, weckt sie Cromwells Beschützerinstinkt. Es wird ihm schließlich zum Verhängnis.

Doch auch wenn es streckenweise Mühe bereitet, dieses Buch zu lesen: Spätestens der letzte Teil, in dem Cromwell sich mit dem Abgrund auseinandersetzen muss, den er sich selbst bereitet hat, macht die Mühe wett. An einer Stelle macht sein Sohn Gregory ihm einen Vorwurf: "So viele Worte und Schwüre und Taten, dass wenn die Leute später mal von ihnen lesen, sie nicht glauben werden, dass so ein Mann wie Lord Cromwell auf der Erde wandelte. Sie tun alles. Sie haben alles. Sie sind alles." Es gibt nicht viele Bücher, die so überzeugend ein "Alles" erzählen, wie es Hilary Mantel auch hier getan hat.

Hilary Mantel: Spiegel und Licht. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Dumont, Köln 2020. 1104 Seiten, 30 Euro.

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