Süddeutsche Zeitung

Heute im TV: "Grey's Anatomy":Dieser chronische Juckreiz namens Leben

Lesezeit: 3 min

Junge Ärzte zwischen stressigem Stationsalltag und der verzweifelten Jagd nach Liebe: Hier erklärt ein Fan, warum der süße Medizinsirup der Fernsehserie "Grey's Anatomy" süchtig macht.

Michaela Förster

Maximale Dosis Gefühlschaos und mitreißende Notfall-OPs bis zum Herzstillstand: Im Kleenexkollaps mündende Heulkrämpfe sind vorprogrammiert. Die Fernsehserie "Grey's Anatomy - die jungen Ärzte" ist nach einer für Fans endlos langen Sommerpause wieder zurück. Was ist es, das vor allem die weiblichen Zuschauer von dieser Serie schwärmen und nach jeder Folge aufgeregt quietschend die beste Freundin anrufen lässt?

Für alle, die dem weißbekittelten Hype noch nicht erlegen sind, hier die Basisdaten: "Grey's Anatomy" verfolgt die Geschichte fünf knackiger, frisch aus dem Studium entlassener Assistenzärzte, die während ihrer Stationsdienste im Seattle Grace Hospital nach Kräften versuchen, Privates mit Beruflichem zu vermischen und nebenbei den harten Krankenhausalltag zu meistern.

Die Verquickung von stressigem Stationsalltag und der verzweifelten Jagd der Assistenzärzte nach Liebe, Verständnis und Sex im Bereitschaftsraum entwickelt einen emotionalen Sog und ist zu schön und schnulzig um umzuschalten.

Im Mittelpunkt steht die Romanze zwischen der Assistenzärztin Dr. Meredith Grey (Ellen Pompeo), der Doktortitel gehört hier unbedingt dazu, und ihrem Chefarzt Dr. Derek Shepherd (Patrick Dempsey), die durch das Auftauchen seiner Noch-Ehefrau (Kate Walsh) entscheidend verkompliziert wird. Die vier anderen Hauptcharaktere, Dr. Christina Yang (Sandra Oh), Dr. George O'Malley (T.R. Knight), Dr. Izzy Stevens (Katherine Heigl) und Dr. Alex Karev (Justin Chambers) können genau so wenig die Finger von Kollegen und Vorgesetzten lassen. Deshalb ufern die sexuellen Abenteuer im Bereitschaftsraum zu einem bunten Wer-mit-wem und Jeder-irgendwie-mit-jedem nach bester "Sex and the City"-Manier aus.

Abschließend wird dieser chronische Juckreiz namens Leben mit zwei großen Mullbinden Krankenhausdramatik und Patientenschicksal umwickelt, und fertig ist der Publikumskracher, der in den USA noch vor den "Desperate Housewives" zur beliebtesten Serie wurde.

Nicht nur der Soundtrack von "Grey's Anatomy", mit Coldplay und James Blunt, sondern auch das Konstruktionsprinzip der Serie ist Pop in Perfektion. Die Synthese aus Soap-Opera und Krankenhausserie wird in den so wunderschönen wie gegensätzlichen Bildern des Vorspanns deutlich: Aus einem Tropf fließt eine Infusion, die plötzlich zu Martini wird, der sich in ein Glas ergießt. Zwischen dem akribisch geordneten Operationsbesteck liegt ein Wimpernformer, der von einer grazilen Frauenhand an ein dezent geschminktes Auge geführt wird.

Im Brustkorb vergessen

Altbekannte Elemente werden in "Grey's Anatomy" kunstvoll zu etwas Neuem zusammengesetzt, das den Zuschauer unweigerlich in seinen Bann zieht, dabei aber weder zu plump noch zu kompliziert wirkt. Dank des "Was bisher geschah"-Zusammenschnitts vor jeder Folge, fällt der Einstieg auch in spätere oder nach verpassten Folgen relativ leicht. Der Plot ist trotz der ineinander verwobenen Parallelhandlungen schnell zu durchschauen.

Gut so, denn schließlich will man sich auch auf die faszinierenden Charaktere konzentrieren: Das Skalpell führen nicht alles überstrahlende Halbgötter in Weiß, die stets moralisch korrekt handeln und keinerlei Fehler begehen. Jeder Arzt hat mit privaten Problemen zu kämpfen und gleichzeitig eine verantwortungsvolle Aufgabe im OP zu meistern. So grau gezeichnet wirken auch Oberärzte menschlich.

Fehler und Niederlagen, die Charakterschwächen durchblitzen lassen, sind an der Tagesordnung: Top-Chirurg Dr. Burke vergisst ein OP-Tuch im Brustkorb eines Patienten und gesteht seinen Fehler erst Jahre später, während Dr. "McDreamy" Shepherd wenig traumhaft zwischen Meredith und seiner Noch-Ehefrau Dr. Addison Montgomery Shepherd hin und her taumelt und so die Krankenhausroutine auf den Kopf stellt.

Gefühlstaumel in Serie

Nicht nur das Schicksal der Protagonisten macht den Reiz und den Suchtfaktor der Serie aus, für das letzte Quietschen und den Griff zum Telefon (Standleitung zur besten Freundin) sorgen die ergreifenden Patientenschicksale. Im Gegensatz zu einigen anderen Krankenhausserien werden Kranke nicht stumm eingeliefert und aufgeschnitten. In jeder Folge wird die Situation eines oder mehrerer Patienten und deren Angehöriger von allen Seiten ausgeleuchtet.

Deshalb schmilzt selbst der größte Eisklotz, der sogar lachte als Benny Beimer starb, gerührt dahin, wenn das OP-Besteck aufblitzt und auf der Kippe steht, ob der nach 16 Jahren zufällig erwachte Komapatient die Entfernung eines Blutgerinnsels im Gehirn überleben wird.

Jeder Krankheitsfall hat einen Bezug zu den tagesaktuellen Problemen der Ärzte oder regt sie zumindest zu tiefgreifenden philosophischen Gedanken an. Am Ende steht das zu Tränen rührende oder glückliche Schicksal der Patienten, eine banale Moral à la "Die Gesundheit ist immer noch das Wichtigste", "Erwachsen werden ist toll" oder "Es gibt ein 'Zuviel'", aber vor allem die Lust auf mehr vom süßen Medizinsirup. Der Gefühlstaumel der jungen Ärzte wird genau an der Stelle unterbrochen, an der zu viel verraten wurde, um nicht am Ball zu bleiben, und zu wenig, um nicht mehr einzuschalten.

Selbst der letzte Schnitt ist sauber und perfekt.

"Grey's Anatomy - die jungen Ärzte", Pro Sieben, mittwochs, 21.15 Uhr

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