Wie nicht anders zu erwarten, gibt es im Jubiläumsjahr neue Hesse-Biografien (und gar eine Hesse-Smartphone-App). Die zwei neuen Biografien eignen sich, den schwäbischen Buddha und schweizerischen Franziskus neu kennenzulernen, jede aber auf ihre eigene Art.
Heimo Schwilks kenntnisreiches Buch liest sich flott, obwohl sein dichterischer Stil, der schon mal eine spekulative Innensicht in Hesses Gedanken zulässt, stellenweise einen schalen Nachgeschmack hinterlässt. Effekt und Sachlichkeit vertragen sich nicht immer. Überraschender aber ist, dass man schnell den Verdacht schöpft, der Biograf könne sein Beschreibungssubjekt nicht allzu gerne leiden. Hesse als spinnerter Künstler? Ihn kennzeichne, so Schwilk, "krankhafte Empfindlichkeit" und ein "eklatanter Mangel an Fürsorge, Empathie und Verständnis".
Jemanden, der nicht zur Beerdigung seiner eigenen Mutter geht, kann man durchaus so bezeichnen, selbst wenn man bedenkt, wie schwer sie den jungen Hermann verletzt hat mit ihrer aus dem Pietismus geborenen Ignoranz gegenüber seinen dichterischen Anfängen. Dann aber ist da noch Schwilks roter Faden, der etwas überstrapaziert wird: Hesse könne nur schöpferisch sein, wenn er leide; deswegen suche er das Leid absichtlich.
Mit der zweiten Folgerung nimmt der Biograf die Kopf- und Augenschmerzen, an denen Hesse ein Leben lang litt (beidseitiger Bügelmuskelkrampf und eine verpatzte OP an den Tränenkanälen), nicht mehr ernst, bezeichnet seine Klagen als "Akte der Selbstkonstitution". Das Spiel aus Abstand und Empathie, das Lebensbeschreibungen innewohnt, hat in Schwilks "Das Leben des Glasperlenspielers" eindeutig Schlagseite. Ein angenehmes Buch für notorische Hesse-Hasser.
Hesse auf den Grund gegangen
Gunnar Decker auf der anderen Seite lässt sich in seiner umfangreicheren Biografie "Der Wanderer und sein Schatten" mehr Zeit, ihm ist das Detail wichtiger als der Fortgang der Erzählung. Hesses enge Beziehung zum Wein, sein Hang zum Pyromanen, diese kleinen Dinge beleuchten den Charakter in seiner Vielfalt. Wie beim Nähen mit Steppstich wird die Chronologie vorangetrieben, zwei nach vorne und dann noch einmal zurück, damit alles gut zusammenhält. Der genaue Blick auf Eltern und zeitspezifische Hintergründe erlaubt eine um Verständnis bemühte Einordnung des notorischen Einzelgängers Hesse in größere Zusammenhänge.
Vieles, was am Mythos schon nicht mehr hinterfragt wird, holt Decker auf den Boden zurück. Der legendäre Ausbruch des 14-Jährigen aus dem Seminar Maulbronn etwa ist hier schlicht der jugendliche "spontane Entschluss, nicht das zu tun, was von einem erwartet wird"; ein Ausflug, keine geplante Flucht. Sicher ist Decker auch in seinen großinterpretatorischen Ansätzen: "Hesse wird es zu einer - oft unterschätzten - Meisterschaft bringen, den Geist seiner Zeit mit dem Geist aller Zeiten schreibend so zu verbinden, dass er den herrschenden Zeitgeist bloßstellt." Weltliteratur ist zeitlos. Wer sich in Zukunft mit Hesse beschäftigt, kommt an dieser prallvollen, unaufgeregten Biografie nicht vorbei.
Hermann Hesse, der selbst die Welt gern in widerstrebenden Polen deutete, ist sowohl eine Zumutung als auch eine Notwendigkeit. Und das nicht nur für Teenager und Senioren, seine offensten Anhänger, sondern auch für den Rest. Schon Hugo Ball, sein allererster Biograf, stellt 1927 fest: "Hermann Hesse ist der letzte Ritter aus dem glanzvollen Zuge der Romantik. Er verteidigt die Nachhut." Wer die Romantik abschnürt, tötet das Herz. Ein paar Abende im magischen Theater der Romanfiguren Haller, Knecht und Camenzind - und schon sieht man die Welt mit ganz anderen Augen.
Dem Verborgenen, Untergründigen gilt es nachzulauschen. Klar muss man am nächsten Tag wieder in die Schule, aber unters Rad gerät man nicht mehr so leicht. Immer nur vernünftig sein, das ist nichts: "Was ist dümmer und macht unglücklicher als Gescheitheit!"
Vor fünfzig Jahren, am 9. August 1962, starb das weise Kind Hermann Hesse im Alter von 85 Jahren in Montagnola im Tessin frühmorgens an einem Hirnschlag. Kampflos entschlafen, so lautete der Kommentar des Arztes. Das Leben war schließlich Kampf genug.