Hervé le Tellier: "Die Anomalie":Doppelt gelandet

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Turbulenzen gibt es ja immer wieder. Meist aber kommen keine geklonten Wesen dabei raus.

(Foto: Alamy / Ranimiro Lotufo Neto/mauritius images)

Das bin doch ich: Hervé Le Tellier jongliert in seinem Bestseller "Die Anomalie" mit der Realität.

Von Joseph Hanimann

Die Romanliteratur mit klonierten Wesen und duplizierten Individuen steckt noch in den Anfängen. Es ist eine Sache vorab für die Science-Fiction. Wie aber geht die Literatur mit Situationen um, wo der Unterschied zwischen Original und Kopie gar nicht mehr zählt, wo zwei um einen kleinen Zeitsprung voneinander getrennte Ichs derselben Person einander das Weiterleben streitig machen? "Ich bin du, du bist ich, das ist einer zu viel, denn wir können nicht zwei sein, verstehst du?", erklärt eine Figur in diesem Roman ihrem geknebelt daliegenden Double, ringt ihm die Bankcodes ab und lässt es dann per Giftspritze, Knochensäge und Säure in der Badewanne verschwinden.

Ganz so makaber geht es bei der Begegnung der übrigen Figuren mit ihrem anderen Selbst nicht her. Die amerikanische Regierung hat vorgesorgt. Sie hält die Flugpassagiere, deren Existenz sich infolge eines rätselhaften Vorfalls beim Durchqueren einer Cumulonimbus-Wand auf dem Weg zwischen Paris und New York aufgespalten hat, auf der Militärbasis McGuire in Trenton, New Jersey, unter Verwahrung. Doch eins nach dem anderen.

Ein Flugzeug landet und alle stellen fest: Es ist schon mal gelandet

Der vierundsechzigjährige Hervé Le Tellier hat mit diesem brillant geschriebenen Roman - Goncourt-Preis 2020 und mit rund einer Million verkauften Exemplaren einer der größten Erfolge seit Jahren in Frankreich - ein raffiniertes Mischwerk aus Spekulation, wissenschaftlich gestützter Antizipation, Zeitsatire, Thriller, literarischem Spaß und mathematisch-philosophischem Experiment vorgelegt. Als Mitglied und gegenwärtig Vorsitzender der Gruppe "Oulipo" (Ouvroir de littérature potentielle), einer Autorenvereinigung für eine kombinatorisch generierte Literatur mit formalen oder sprachlichen Regelvorgaben, der Raymond Queneau, Georges Perec, Italo Calvino angehörten, kennt er sich in solchen Dingen aus. Drehten seine letzten Bücher "All die glücklichen Familien" und das köstliche "Ich und der Präsident" sich aber noch um sein eigenes hypothetisches Ich, so ist dieser Roman "Die Anomalie" sein erstes ausgewachsenes Werk purer Fiktion von schwindelerregender Komplexität.

Wer bei dieser Art Literatur bloße Formspielerei, fleischlose Gestalten und kombinatorische Bravournummern befürchtet, ist von den ersten Seiten an beruhigt. Und liest gefesselt weiter. Unterhaltsam verstaut der Autor da seine Figuren kapitelweise in der Boeing 787 des Air-France-Flugs 006 Paris-New-York. Da ist der Auftragsmörder Blake, der an einem New Yorker Villenstrand einen Mann umzubringen hat, oder der in die Jahre gekommene Architekt André Vannier in Begleitung seiner Geliebten Lucie, unterwegs zur Baustelle des Silver Ring. Da ist auch die sechsjährige Sophia mit ihrer Mutter und ihrem Bruder nach einem Paris-Besuch mit ihrem Vater, einem US-Soldaten auf Urlaub aus dem Afghanistan-Einsatz, da ist der nigerianische Starsänger Slimboy auf der Reise zu einem Konzert in New York oder die schwarze amerikanische Staranwältin Joanna, die während jenen Atlantikflugs beschließt, ihren Geliebten zu heiraten. Und natürlich sitzt auch der Schriftsteller Victor Miesel mit im Flugzeug, eine Art gealterter Kafka mit drahtigem Haar und dunklem Teint, der nach jenem Flug sein Buch "Die Anomalie" schreiben und sich dann umbringen wird. "Der wirkliche Pessimist weiß, dass es schon zu spät ist, um noch Pessimist zu sein", heißt es in jenem Buch. Den Sturz ins Luftloch beim Durchqueren des gigantischen Cumulonimbus wird allen Fluggästen unterschiedlich in Erinnerung bleiben.

Beim Austritt aus der Gewitterwolke wird die Sache dann aber erst wirklich kompliziert. Die seltsamen Fragen und Anweisungen der Bodenstation JFK versteht der Bordkommandant zunächst als Scherz der Kollegen anlässlich des letzten Flugs seiner Karriere. Die Zwangslandung auf der Militärbasis McGuire unter Aufsicht zweier Kampfflugzeuge der US Navy mit Schießbefehl bei Zuwiderhandlung belehrt ihn eines Besseren. Nach dem 11. September 2001 hatten die Behörden das Verhaltensprotokoll für unvorhergesehene Situationen revidiert und mit dieser Aufgabe ein paar junge Mathematikgenies betraut. Für die unwahrscheinlichsten Fälle wie den Anflug von Außerirdischen haben diese aus Jux das Protokoll 42 ausgedacht, was zur Folge hat, dass sie nun mitten aus einem Biergelage ihres Universitätscampus in den Krisenstab geholt wurden. Denn die an diesem 24. Juni 2021 auf der Militärbasis immobilisierte Air-France-Maschine des Fluges 006 ist in allen Dingen einschließlich der Passagiere identisch mit jener, die am 10. März 2021 schon eine solche Gewitterwolke durchquert hat und dann planmäßig auf dem JFK-Flughafen gelandet ist. Wie eine so seltsame Duplizierung der Realität möglich ist, suchen die jungen Mathematiker den ratlosen Offizieren und Politikern mit diversen Theoriemodelle verständlich zu machen.

Was wird anders, wenn alles dupliziert wird?

Le Tellier hat sich dazu besonders vom schwedischen Philosophen Nick Bostrom und seiner Theorie von der Welt als digitaler Simulation anregen lassen. Sind die Lebensfäden seiner Figuren erst einmal kompakt im engen Raum der Flugkabine verschnürt, lässt er sie locker um die Hypothesen des weiteren Lebensverlaufs schlenkern. Manche Passagiere lesen oder verschenken das Buch "Die Anomalie", das Victor Miesel vor seinem Suizid nach der Rückkehr aus New York geschrieben haben wird. Die literarischen Anspielungen schillern vielfältig durch den Text, und ein spekulatives Divertimento erzählt im zweiten Romanteil die drei Tage Quarantäne der festgehaltenen Air-France-Maschine, mit Verhörprotokollen der Fluggäste, mathematischen und theologischen Debatten über die Duplizierung des Menschen sowie einem amerikanischen Präsidenten, den an der ganzen Sache allein das Wort "Mickey Mouse" zu interessieren scheint.

Hervé le Tellier: "Die Anomalie": Hervé Le Tellier: Die Anomalie. Roman. Aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte. Rowohlt, Hamburg 2021. 352 Seiten, 22 Euro.

Hervé Le Tellier: Die Anomalie. Roman. Aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte. Rowohlt, Hamburg 2021. 352 Seiten, 22 Euro.

Werden dann aber im Schlussteil des Romans die Figuren eine nach der anderen mit ihrem Double konfrontiert, zwei jeweils identische Ichs mit dem einzigen Unterschied, dass das eine drei Monate Lebenszeit weniger hat, verliert die Geschichte plötzlich an Schwung. Verschiedene Varianten der Duplizierung werden etwas schematisch durchgespielt und nicht ausgeschöpft, von der anfangs erwähnten Liquidierung Blakes Nummer eins durch Blake Nummer zwei, über die friedliche oder zerstrittene Koexistenz, bis zum tragischen Fall jener Frau, deren zweites Ich in den ihm fehlenden drei Lebensmonaten das Schwangerwerden verpasst hat und so im Ehepaar nun zu viel ist. Das alles sieht aber nach Kopfgeburt aus, als wäre der Autor doch noch vom "Oulipo"-Syndrom erfasst worden und wüsste nicht recht, was anfangen mit seinen Figuren und deren verdoppelter Lebensquantität.

"Was wird Ihrer Ansicht nach für uns anders werden durch die Duplizierung der Dinge in einer simulierten Realität?", wird der Schriftsteller Victor Miesel Nummer zwei gefragt bei der Präsentation des Buchs "Die Anomalie", das Victor Miesel Nummer eins geschrieben hat. "Nichts", lautet die Antwort. Denn wir würden weiterhin morgens aufwachen, zur Arbeit gehen, essen, trinken und so tun, als wären wir real. Wir seien blind gegenüber allem, was beweist, dass wir uns täuschen - "das ist menschlich". Der Autor Le Tellier brilliert als eine Art Moralphilosoph fürs digitale Zeitalter mit seiner Kunst, auf hochkomplizierte Weise zu dieser simplen Einsicht zu gelangen. Und die souveränen Übersetzer haben mit ihrer hervorragenden Arbeit der Vorlage ein sprachlich ebenbürtiges Double verschafft.

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