Süddeutsche Zeitung

Herrenliteratur:Gähnende Lüge

Der Roman "Martin Schneitewind" wirft die Frage auf: Ergibt das postmoderne Spiel mit fiktiven Autoren noch Sinn?

Von Kristina Maidt-Zinke

Ein Kollege, der leider nicht mehr unter uns ist, erzählte manchmal von seinen Streichen als Jungredakteur bei einer norddeutschen Tageszeitung. Zeitweilig betreute er dort die Geburtstagskolumne, in der jeden Tag eine historisch bedeutende Persönlichkeit vorgestellt werden sollte. Als plötzlich eine Lücke drohte, erfand er kurzerhand einen deutschen Barockdichter, von dem niemand je gehört hatte, und versah ihn liebevoll mit biografischen Details samt Werkliste. Die Sache flog nie auf, denn das Internet gab es noch nicht, und der Name des Phantom-Jubilars war rasch wieder vergessen. Dem Kollegen aber blieb das Vergnügen, das ihm der Bluff bereitet hatte, lange im Gedächtnis.

Das war in den postmodernen Achtzigern, als Wolfgang Hildesheimer mit der Biografie des erfundenen Kunstkritikers Andrew Marbot sogar Gelehrte vorübergehend narrte und Loriots Steinlaus in den "Pschyrembel" aufgenommen wurde. Es war die Zeit, als in der Literatur metafiktionale Spielereien en vogue waren und in der Wissenschaft der akademische Scherz: So ist überliefert, dass ein Kreis von Koryphäen der Germanistik um Karl-Otto Conrady und Norbert Oellers sich damals zur schieren Kurzweil einen Dichter namens Wilhelm Kurzwig ausdachte, der an den Düppeler Schanzen umkam und ein einsames, überdies verschollenes Fragment mit dem Titel "Der Waldgänger" hinterließ - oder so ähnlich.

Unsere Epoche gilt als "postironisch", und der Umgang mit Fake-News und groß dimensionierten Betrugsaffären hat uns abgestumpft gegen die kleinen Freuden des intellektuellen Amüsements. Auch hat es, wenn alle jederzeit ihren Blödsinn worldwide verbreiten können, nur noch wenig Reiz, sich innerhalb bestimmter Zirkel gegenseitig zu nasführen. Das "Erfinden" von Schriftstellern, das als selbstreferenzielle Volte der Literatur eine lange Tradition hat, wird höchstens noch zweckgebunden praktiziert - zur Tarnung eines realen Autors, der seine Identität verbergen will, oder als Marketing-Instrument, um eine Aufmerksamkeit zu schüren, die sich mit dem literarischen Produkt allein nicht herstellen ließe. Der Unterschied zur herkömmlichen Pseudonym-Praxis ist dann aber nur graduell. Im Idealfall hat sich, wie etwa bei "Elena Ferrante" oder "Jean-Luc Bannalec", der Erfolg verselbständigt, bevor die Urheberschaft aufgedeckt wird. Die bloße Lust an der Täuschung oder gar die satirische Absicht, die Leichtgläubigkeit des Literaturbetriebs vorzuführen, spielen dabei keine Rolle.

Wenn nun ein völlig unbekannter, seit Jahren verblichener Romancier aus der Versenkung geholt wird und das einzige Werk, das er hinterließ, von Großmeistern der Fabulierkunst "herausgegeben" wird, dann weckt das noch einmal Hoffnungen auf ein echtes Schelmenstück. Der kürzlich erschienene Roman "An den Mauern des Paradieses" soll von einem deutsch-französischen Autor namens Martin Schneitewind stammen, 1945 in Straßburg geboren und 2009 dortselbst verstorben, nachdem er sein letztes Lebensdrittel als Beamter der Stadtverwaltung verbracht hatte. Es ist dort freilich keine Spur von ihm zu ermitteln, und ebenso wenig erinnert sich im benachbarten Kehl jemand an seine Witwe, die angebliche Hüterin des Manuskripts, die dort als Lehrerin gearbeitet haben soll. Dafür stehen zwei prominente Paten hinter dem behaupteten Sensationsfund. Österreicher sind sie beide und zur Zeit quasi Nachbarn im Bregenzerwald: Als "Entdecker" firmiert Michael Köhlmeier, Mythen- und Märchenspezialist und Hansdampf in allen Gattungen; als "Herausgeber und Übersetzer" zeichnet Raoul Schrott, Poeta doctus, Polyhistor und Epen-Nachdichter, außerdem Spätdadaist mit Hang zu kleinen autobiografischen und anderen Schwindeleien.

Der Lebenslauf Martin Schneitewinds ist spektakulär, aber leicht als Konstrukt zu durchschauen

Dass dieses Duo eine neue Herausforderung suchte und den Betrieb ein wenig aufmischen wollte, erscheint schlüssig. Doch bislang sind die Reaktionen eher lau. Kein Wunder, denn bei allem Aufwand der Inszenierung schien es den beiden auf Glaubwürdigkeit oder wirksame Irreführung, gar nicht anzukommen. Der von Michael Köhlmeier im Nachwort geschilderte Lebenslauf des Martin Schneitewind, den er einst in einer Marburger Studenten-WG kennengelernt haben will, ist zwar spektakulär, aber allzu leicht als Konstrukt zu durchschauen. Der windige Typ, der Anfang der Siebzigerjahre in besagte Wohngemeinschaft schneite, wird beschrieben als Glückskind und Genie, als Menschenverführer, der sich chamäleonartig jedem anverwandelte und ihn dann skrupellos ausnutzte: Er sei, verrät Köhlmeier, das Vorbild seines Romanhelden "Joel Spazierer" gewesen. Ins Komisch-Surreale driftet die Erzählung spätestens, wenn der Unruhestifter, nachdem die Gemeinschaft seinetwegen zerbrochen ist, in einer Blitzaktion die ganze Wohnung besenrein ausraubt und spurlos verschwindet.

Noch abenteuerlicher ist die Episode, die sich laut Köhlmeier in den Sechzigerjahren beim Corriere della Sera in Mailand zutrug, wo der hochbegabte Volontär Schneitewind in der Sportredaktion, genauer: auf der Herrentoilette, dem berühmten Journalisten und Schriftsteller Dino Buzzati begegnete, woraus eine wunderbare Freundschaft sowie ein gemeinsames literarisches Projekt entstand. Das Buzzati dann für sich reklamierte, obwohl der fertige Roman zur Gänze von Schneitewind stammte. Der, schon damals ein Meisterdieb, stahl das Manuskript und ließ es vierzig Jahre liegen, in denen er unter anderem Theologie in Tübingen studierte und Südamerika bereiste. Kurz vor seinem Tod schrieb er den italienischen Text auf Französisch um und übergab ihn seiner Lebensgefährtin, von der ihn dann Michael Köhlmeier erhielt.

Eine hübsche Geschichte - und deutlich kurzweiliger als das Werk, dem sie vorausgegangen sein soll. Der Roman "An den Mauern des Paradieses" ist eine Kolportagestory, halb Geschichtsfiktion und halb Dystopie, die brandaktuelle Themen samt existenziellen Fragen verhandeln und dabei noch ein Krimi sein will, außerdem ein Konglomerat verschiedener Stilregister, und die unter dieser Last in allen Fugen ächzt: Kurz nach dem Ersten Weltkrieg kommt ein Orientalist aus Toronto im Auftrag des New York Herald an den Persischen Golf, wo bei einem gigantischen Dammbau einige Tontafeln gefunden wurden, die ein neues Licht auf den biblischen Schöpfungsmythos werfen könnten. Der Reisende betritt damit das spezielle Interessengebiet von Raoul Schrott, dem Kenner und Erforscher sumerischer und assyrischer Schriften, was sich niederschlägt in Übersetzungsproben, Textauslegungen und "Editorischen Notizen" voll gelehrter Verweise, ein paar Finten inklusive.

Die "Herausgeber" haben den Text ausgiebig und selbstbezüglich angereichert

Als Gegenleistung für den Zugang zur Fundstätte soll der Reporter die verschwundene Tochter des Bauleiters suchen, und er gerät dabei er in die Fänge eines finsteren diktatorischen Systems, das mit Mauern und Militäreinsätzen gegen Migrantenströme kämpft. In einer Parallelhandlung berichtet ein libanesischer Offizier von der Brutalität jener Maßnahmen und vom Versuch einer Revolte. Am Ende teilt er den Kerker mit dem Kanadier, der beide Erzählstränge in seinem Schreibheft zusammenführt - die fiktionale Spiegelung einer doppelten Verfasserschaft.

Die beiden "Herausgeber" des Romans haben den Text so ausgiebig wie selbstbezüglich angereichert mit Reflexionen über das Verhältnis von Sein und Schein, Wahrheit und Täuschung, Realität und Fiktion. Und Raoul Schrott lässt seine editorischen Überlegungen gipfeln im fundamentalen Zweifel an der Funktion und Instanz eines "Autors". So weit, so gut.

Übertrieben haben Schrott und Köhlmeier allerdings mit ihren begleitend veröffentlichten Hymnen auf das Schneitewind-Opus, diesen "ungeheuren und einsamen Wurf", über dessen "prophetische", "charismatische" und sonstige Qualitäten sie sich gar nicht mehr einkriegen. Sicher hatten die beiden ihren Spaß, aber sie hätten den Leser daran teilhaben lassen sollen. In all dem postironischen Pathos verpufft leider auch die Pointe, dass Schneitewind, wie eine Anmerkung behauptet, mit seinem "amerikanischen Jugendfreund" Donald Trump durch Südamerika reiste, bis die beiden sich im peruanischen Urwald zerstritten. Zwei Hochstapler im Dschungel, ein echter und ein Phantom - zu schade, wenn dann kein Schwein guckt.

Martin Schneitewind: An den Mauern des Paradieses. Roman. Aus dem Französischen von Raoul Schrott. Mit einem Nachwort von Michael Köhlmeier. dtv, München 2019. 400 Seiten, 24 Euro

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Quelle:
SZ vom 14.05.2019
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