Süddeutsche Zeitung

"In der Ferne" von Hernan Diaz:Ein ansehnlicher Schwede

Ein naturschwerer Kunstwestern: In Hernan Diaz' Roman "In der Ferne" klafft der größte Canyon zwischen der Sprache und der Wirklichkeit.

Von Maike Albath

Was für ein eigentümliches Buch. Da wandert jemand durch die Prärie, tagelang, monatelang, jahrelang. Meistens allein, nur selten auf einem Pferd. Ist das ein Western, eine Cowboy-Romanze, ein historischer Roman, das Psychogramm eines einsamen Trappers? Oder nur ein gewaltiges Naturpanorama, ein moderner Mythos?

Es geht um Håkan Söderström aus Schweden, der irgendwann Mitte des 19. Jahrhunderts als Heranwachsender mit seinem älteren Bruder Linus von den bitterarmen Eltern nach Amerika geschickt wird und schon in Portsmouth seinen Reisegefährten verliert. Dieser Bruder, voller fantastischer Geschichten über die Neue Welt, war der einzige Mensch, der Håkan je Fürsorge entgegenbrachte. Er besteigt ohne ihn ein Schiff, vermutlich das falsche, landet in San Francisco und nicht, wie geplant, in New York. Håkan, ein kräftiger Junge, der unaufhörlich wächst, will sich gen Osten aufmachen und Linus finden.

Da Håkan kein Geld hat und auch nicht weiß, wie er das Land allein durchqueren soll, begleitet er eine irische Goldgräberfamilie. Der von Gier gepackte Vater stößt tatsächlich auf eine Mine, doch er kennt die örtlichen Machtverhältnisse nicht. Man verjagt ihn, und Håkan wird gefangen genommen.

Keine Bindung ist von Dauer, jeder Hauch von Glück verfliegt

Es folgt sein erstes Martyrium: Der ansehnliche Schwede muss einer betörend schönen, aber ekliger Weise zahnlosen Dame zu Diensten stehen, bis er eines Tages fliehen kann. Und dies wird zur Grunderfahrung des wilden Helden, der zum Mann heranwächst, von einem Naturforscher alles über Tiere, Anatomie und Heilkunde lernt, Indianer nach einem Überfall zusammenflickt, Gewalt verabscheut, den ein oder anderen Freund findet.

Aber keine Bindung ist von Dauer, jeder Hauch von Glück verfliegt. Nach einem Gemetzel unter Siedlern, bei dem er die Schwachen verteidigt, wird er überall steckbrieflich gesucht. So geht es ewig, er wächst und wächst, trägt einen Mantel aus Löwenfell und Reptilienhäuten, zieht durch Wüsten, Wälder und Canyons. Längst nennt man ihn "den Hawk" und rühmt ihn für seine unermesslichen Kräfte.

So weit, so blutrünstig, so männlich einsam. "In der Ferne" lautet der Titel dieser Prärie-Saga, vorgelegt von Hernan Diaz, 2017 in dem unabhängigen Verlag Coffee House Press erschienen, für den Pulitzer-Preis nominiert, von der New York Times gefeiert, in zwölf Sprachen übersetzt. Der Roman scheint Bilder zu triggern, die zu dem zu passen, was wir heute über die USA lesen wollen.

Der Autor erzählt von einem verheerten, staubigen, brutalen Land, in dem Menschen herumirren, die nirgendwo einen Platz finden und überall fremd sind. Diaz, 1973 in Argentinien geboren, in Schweden aufgewachsen, mittlerweile in Brooklyn zu Hause, Professor für Hispanistik an der Columbia University, kennt Erfahrungen von Entwurzelung. Seine Urgroßeltern waren aus Italien nach Argentinien eingewandert; seine Eltern, die Mutter Psychoanalytikerin, der Vater Filmemacher, waren zu links, um nach 1974 noch in Argentinien bleiben zu können.

Mit dem klassischen Frontier-Mythos hat dieser Western nichts zu tun

Die Familie siedelte nach Stockholm über, und Hernan Diaz pendelte zwischen zwei Welten, bis er in den USA landete. Zuletzt veröffentlichte er eine Studie über Borges. Zweifellos versteht Diaz etwas von Literatur, kennt auch die europäischen Amerika-Folien, von Franz Kafka bis zu Karl May, und bedient sich freimütig aus der Trickkiste der Neue-Welt-Phantasien.

"In der Ferne" hat mit dem Frontier-Mythos, wie er in zahllosen amerikanischen Western zelebriert wird, nichts zu tun. Sein Held bewegt sich nicht zufällig nach Osten, in die gegenläufige Richtung der Siedler. Die Landnahme wird in aller Grausamkeit geschildert. Über die Figur des ganz auf sich gestellten jugendlichen Helden, die Schauplätze und die thematische Ausrichtung spielt Diaz auf Cormac McCarthys Romane an, vor allem auf die verstörende Western-Apokalypse "Blood Meridian" (1985) über eine Bande von Skalpjägern.

Aber so sehr er sich auch anstrengt, an McCarthy mit seiner komplexen Narration, dem rhythmischen Satzbau und der prunkvollen Sprache kommt Diaz nicht heran. Bei McCarthy, der als Nachfolger Faulkners und lexikalisch reichster amerikanischer Romancier gilt, wechseln ästhetisierte Beschreibungen von Gewalt mit prächtigen Naturbildern. Hernan Diaz baut seinen Roman perspektivisch eher eintönig auf, denn wir erleben die Geschehnisse ausschließlich aus Håkans Blickwinkel.

Je wortkarger der Held, desto eloquenter der Erzähler

Der Autor schnitzt eine ziemlich konventionelle Rahmenhandlung zurecht: Håkan gerät zuerst als alter, weißhaariger Abenteurer in unseren Blick, der ein Eisbad nimmt. Sein Schiff, mit dem er nach Alaska unterwegs ist, hängt in einer Meerenge fest. Als der riesige Mann zwischen den Eisschollen wieder auftaucht, raunen die anderen Passagiere, es müsse sich um "den Hawk" handeln, einen ehemaligen Häuptling, der Löwen und etliche Siedler auf dem Gewissen habe. Alles Lüge, meint ein anderer Goldgräber.

Håkan hört die Bemerkung, gibt ihm recht und beginnt, seine Odyssee zu erzählen. Unter den gebannten Zuhörern ist ein fünfzehnjähriger Junge, eine Spiegelfigur, etwa so alt, wie Håkan es bei seiner Ankunft in Amerika war. Der Junge markiert die Position des Lesers. Dann entfaltet sich der Roman, 24 Kapitel reihen sich aneinander, trocken und gerafft zu Beginn, poetischer, wenn es um Landschaften geht, bis er wieder in das Eis vor Alaska mündet, auf dem sich der Held am Ende verabschiedet und, wie man es inzwischen schon kennt, weiter in Richtung Horizont wandert.

Hinter der auktorialen Stimme müsste sich also, so suggeriert es Diaz mit seinem Einstieg, der Held selbst verbergen. Der Autor inszeniert eine bizarre Gegenläufigkeit. Denn Håkan kann zu Beginn kein Englisch, ging ohnehin kaum je zur Schule, ist schweigsam und spricht über Jahre kein Wort, weil er sich nach dem Tod seines zärtlichen Freundes Asa allein in einem Canyon und dann im Wald verbirgt.

Doch je wortkarger der Held, desto eloquenter der Erzähler! Es gibt Bilder und Vergleiche auf einem enormen Abstraktionsniveau, das man einem einsilbigen Riesenkerl kaum zutrauen würde. Håkan spürte "die Heiligkeit des menschlichen Körpers", und jeder Blick "unter die Haut" ist eine "Entweihung". Als Indianerkinder ein kleines Lager nachbauen, ist von "Verdichtung" die Rede, die eine "stärkere Realität" besitze als das Original. Das "Bewusstsein" registriere in der Wüste seine eigene Auflösung. Der "pulverisierte Stein" klinge "wie Geflüster über die Ebene wehender Asche". Und ein anderes Mal nimmt Håkan wahr, wie "das Gewicht der Realität aus der Welt entschwand".

Womöglich wollte Diaz so das Artifizielle seiner Erzählung unterstreichen, aber mitunter wirkt es unfreiwillig komisch, so als sei eben doch alles aus Pappmaché. Frauen kommen außer der Zahnlosen und einer verhärmten schwedischen Mutter bei Diaz praktisch nicht vor. Nur ein Mädchen, das seinen Bruder rührend versorgt, löst bei Håkan ein unbestimmtes Sehnsuchtsgefühl aus, doch kaum zeigen die beiden einander ihre Zuneigung, wird Helen schon die Kehle durchgeschnitten. Håkan wird zum Getriebenen, er überlebt allein in der Wildnis. Es ist eine Macho-Phantasie, aber der Macho scheint ziemlich am Ende seines Lateins. Außer zu gehen, fällt ihm nicht viel ein.

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