Süddeutsche Zeitung

Hermann Buhls Verschwinden im Himalaja:Sein letzter Alleingang

Vor 50 Jahren verschwand der Extrembergsteiger Hermann Buhl im ewigen Eis. Sie werden nicht glauben, wie alt er auf diesem Foto ist - eine Wirkung der Todeszone: Ist Bergsteigen eine unbegreifliche Idiotie?

Michael Ott

Es gibt zwei Fotografien des Tiroler Extrembergsteigers Hermann Buhl, in denen Faszination und Verrücktheit des Alpinismus förmlich mit Händen zu greifen sind. Die eine Aufnahme machte er selbst mit seiner "Karat 36", auf dem Gipfel des 8125 Meter hohen Nanga Parbat, am 3. Juli 1953 kurz vor sieben Uhr abends. Buhl hat seinen Eispickel mit dem daran geknüpften Wimpel seiner Tiroler Kletterfreunde in den Gipfelfirn gerammt, der Blick darunter durch geht weit nach Nordosten über die vergletscherten Gipfel des Karakorum. Das Bild zeigt keinen Menschen, es zeigt seine Aussicht. In der friedlichen Stille der unfassbar weiten Landschaft erinnern nur die bedrohlich langen Schatten daran, dass es schon spät ist - zu spät für den Abstieg.

Was ein Mensch alleine nicht erreichen kann

Das andere Bild entstand fast 24 Stunden später. Es zeigt Hermann Buhl, der an zwei Skistöcken auf seine Kameraden zuwankt; auch dieses Bild scheint keinen Menschen zu zeigen, vielmehr sieht man ein lächelndes Gespenst. Buhl hatte die ganze Nacht knapp unter dem Gipfel im Stehen auf einem Felsvorsprung verbracht.

Die Bilder des gerade 28-Jährigen, der durch die Anstrengung um Jahre gealtert wirkte, gingen um die Welt: Sein Alleingang begründete einen der größten alpinistischen Mythen des 20. Jahrhunderts. Doch wurde er - wohl nicht zufällig in der großen Zeit der Existenzphilosophie - auch für Menschen faszinierend, die das Bergsteigen sonst nur als unbegreifliche Idiotie ansahen.

Denn die beiden Bilder symbolisieren das, was ein Mensch allein erreichen kann, auch in dem, was auf ihnen gerade nicht zu sehen ist. Das Gipfelbild zeigt - anders als etwa jenes von der Erstbesteigung des Mount Everest wenige Tage zuvor - keinen triumphierenden Eroberer, denn Buhl war ja allein: Er hätte sich schon mit Selbstauslöser fotografieren müssen. So aber versetzt es den Betrachter selbst an die Stelle des einsamen Bergsteigers; als sei man selbst der erste Mensch auf dieser Schneekuppe - oder der erste Mensch überhaupt.

Der "Schicksalsberg der Deutschen"

Das Rückkehrer-Bild hingegen lässt die Anstrengung dieser 41 Stunden in der Todeszone allenfalls erahnen. Gerade darum aber sind diese Bilder so suggestiv: Buhl wurde nicht nur zur Legende und zum Vorbild einer ganzen Bergsteigergeneration, Reinhold Messner inklusive; sein Alleingang wurde tatsächlich zum Mythos. Und er wurde es vielleicht auch, weil er von jener "absurden Freiheit" zu erzählen schien, von der Camus apropos des Bergsteigers Sisyphos gerade geschrieben hatte.

Zuerst war er freilich eine alpinistische Höchstleistung. Der Nanga Parbat galt schon lange als einer der gefährlichsten Achttausender: Seine über vier Kilometer hohe Rupal-Flanke ist die höchste Steilwand der Erde; aber auch auf allen anderen Seiten und denkbaren Anstiegsrouten donnern regelmäßig Lawinen herab. Seit den ersten Erkundungen forderte der "Nackte Berg" immer wieder Tote. Besonders dramatisch verliefen die deutschen Expeditionen der dreißiger Jahre, bei denen gleich halbe Mannschaften samt Sherpa in Wetterstürzen erfroren oder von Eislawinen erschlagen wurden.

Zum "Schicksalsberg der Deutschen" stilisiert, verwandelte sich der Nanga Parbat aber in politisches Terrain. Nach 1918 war die von Kampfrhetorik tönende Bergsteigerei ohnehin für viele eine symbolische Fortsetzung des Ersten Weltkriegs; nun lieferten die Expeditionsberichte von der Himalaya-Front ("Deutsche am Nanga Parbat. Der Angriff 1934") mentale Schulung für Opfer- und Kampfeswillen im Zweiten. Die deutsch-österreichische Expedition von 1953, der Buhl angehörte, war daher die Durcharbeitung eines doppelten Traumas - von erneuter Niederlage und alpinistischen Vorkriegs-Katastrophen.

"Hinunter wird's schon besser gehen."

Hinzu kam, dass zur gleichen Zeit eine britische Expedition zum finalen "Angriff" auf den Mount Everest ansetzte und dort oben ein letztes Mal den Traum imperialer Größe inszenierte. So empfand man in der deutschen und österreichischen Öffentlichkeit die Erstbesteigung des Nanga Parbat fast als Erlösung von einem Fluch. Doch musste, damit die politische Identifikation funktionierte, Buhls Alleingang zur Mannschaftsleistung uminterpretiert werden - und damit gab es nach seiner humpelnden Rückkehr ins Basislager ein Problem.

Schon zuvor war es zum Streit zwischen den Expeditionsleitern und einzelnen Bergsteigern gekommen. Buhls letztlich erfolgreicher Aufstieg war sogar gegen den ausdrücklichen Befehl "von unten" erfolgt, was bei einer derart feldzugsmäßigen Angelegenheit aus Sicht der Anführer einem Hochverrat gleichkam. Nach der Rückkehr brach der Konflikt dann offen aus; schließlich landeten die Kameraden sogar vor Gericht.

Teil 2: Was bleibt, ist eine Spur ins Nichts.

Hermann Buhls wachsender Berühmtheit tat dieser Streit aber keinen Abbruch, im Gegenteil. In Quick-Artikeln, Vorträgen und einem Buch erzählte er seinen Alleingang immer wieder, und das konnte er hervorragend: anschaulich und strohtrocken. Unheroischer kann man einen "Gipfelsieg" kaum schildern als Buhl die letzten hundert Meter: "Jeder Schritt eine Überwindung, die Schistöcke habe ich zurückgelassen, auf allen vieren krieche ich aufwärts, halte mich auf den höchsten Punkt zu. 2 Meter überragt die Schneeauflage den Fels, ich bin auf dem höchsten Punkt, auf dem Nanga Parbat, 8125 Meter. Ich bin mir der Bedeutung des Augenblicks nicht bewusst, fühle auch nichts von Siegesfreude, komme mir gar nicht als Sieger vor, ich bin nur froh, dass ich heroben bin und all diese Strapazen vorläufig ein Ende haben. Hinunter wird's schon besser gehen."

In den Grenzregionen der menschlichen Widerstandskraft

Doch hinunter wird der Weg erst recht zur Strapaze. Am Morgen beginnt Buhl sich mit taubgefrorenen Füßen den Grat hinab zu kämpfen, bekommt kaum noch Luft, spuckt Blut, nimmt schwere Aufputschmittel, um überhaupt durchzuhalten, halluziniert, hört Stimmen. "Mir kommt es sonderbar vor, dass ich gestern im Stande war, den Gipfel zu ersteigen. Überall sehe ich Spuren menschlichen Daseins, Steinmänner, vertrautes Gelände, doch ich weiß genau, ich bin ja der erste Mensch, der hier war, dies alles ist Neuland." Endlich um sechs Uhr abends ist er zurück beim Zelt.

Damit ist man bei der anderen Dimension des Mythos Hermann Buhl. Denn obwohl er natürlich auf die anderen angewiesen war, um auf über 6900 Metern Höhe aufbrechen zu können, bot sein Alleingang in der Todeszone ein beispielloses Projektionsfeld: Es ist ein Weg in Grenzregionen des Bewusstseins und der menschlichen Widerstandskraft. Ohne künstlichen Sauerstoff, mit minimaler Ausrüstung, ohne Begleiter erscheint dieser Gang als singuläre Tat im wörtlichen Sinn: Auf das leere Blatt, die weiße Firnkuppe des Nanga Parbat schreibt keine Mannschaft und damit auch keine Nation ihre Namen, sondern nur ein Einzelner die Spur seiner Steigeisen.

Buhls Alleingang stand tatsächlich im Widerspruch zum Ideal der "Mannschaftsleistung": Buhl hatte keinerlei Lust, sich als austauschbares Rädchen in einem "Team" darstellen zu lassen; sein notorischer Eigensinn (der ihn überhaupt zu seiner Tat befähigte) war vielmehr das gerade Gegenteil jener "Teamfähigkeit", die als soft skill inzwischen sämtliche sozialen Betriebseinheiten regiert, egal ob Redaktion, Restaurant oder Bundeskabinett.

Spuren im Schnee

Aber andererseits lag Buhl nicht nur ein "Teamspirit" Marke Klinsmann fern: Sein Eigensinn richtete sich auch nicht gegen andere. Seine Motivation kam nicht aus irgendeiner Form sozialen oder gar nationalen Konkurrenzdenkens; sein Alleingang folgte weder dem "Einer-für-alle"- noch dem "Einer-gegen-alle"-Modell - Buhl wollte einfach nur bergsteigen. Und damit ging sein Alleingang auch über jene Verhaltensmuster in Politik oder Wirtschaft hinaus, denen "Alleingang" heute die zweifelhafte Metapher von wahlweise bedrohlicher Isolation oder kühnem Wagemut liefert.

So blieb dieser Gang ein Rätsel, ebenso wie Buhls Verschwinden vier Jahre später: Nachdem ihm mit einer kleinen Mannschaft die Erstbesteigung des 8047 Meter hohen Broad Peak gelungen war, ging er mit Kurt Diemberger den benachbarten Eisriesen der Chogolisa an. Am 27. Juni 1957 stiegen die beiden schon weit oben den Grat hinauf, als sie ein plötzlicher Wetterumschwung zur Umkehr zwang.

Und dann geschah das, wofür es bis heute keine rechte Erklärung gibt - ein letzter, tödlicher Alleingang. Buhl, der im Nebel hinter Diemberger lief, verlor dessen Spur, ging geradeaus und brach mit einer überhängenden Gratwechte ein. Der Sturz in die schneegepanzerte Nordwand hinab betrug mindestens 300, wahrscheinlich 500 Meter.

Wie bei so vielen modernen Helden - von James Dean bis Kurt Cobain - befestigte dieser frühe Tod mit zweiunddreißig Jahren erst recht den Mythos. Hermann Buhls Körper wurde nie gefunden; es blieb nur eine Fotografie von Spuren im Schnee, die auf die Abbruchkante, das Nichts zulaufen. Und die Vorstellung eines ganz auf sich vertrauenden, an einem klaren Abend allein auf einem Gipfel kauernden Menschen.

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Quelle:
SZ vom 27.6.2007
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