Ideengeschichte:Wahn, Wille, Wehe

Ideengeschichte: Friedrich Nietzsche, Karl Marx, Richard Wagner - drei Deutsche, die in der ganzen Welt Wirkung gezeigt haben.

Friedrich Nietzsche, Karl Marx, Richard Wagner - drei Deutsche, die in der ganzen Welt Wirkung gezeigt haben.

(Foto: Quelle: Wikimedia commons, Imago Images)

Herfried Münkler wird 70 - und schenkt sich selbst ein Buch: Er setzt Leben und Wirken von Marx, Wagner und Nietzsche in Beziehung.

Von Johan Schloemann

Im leerer werdenden Feld zwischen Intellektualität und Politik ist Herfried Münkler der berühmteste Professor Deutschlands. An diesem Sonntag feiert er seinen 70. Geburtstag, und nicht nur deshalb muss man feststellen, dass er diesen Ruf ohne Zweifel verdient hat. Man kann nur bewundern, wie Münkler auch in den prosaischsten Zusammenhängen der Politikberatung auf einen großen ideengeschichtlichen Fundus zurückgreift, um Probleme seiner Zeit auf den Begriff zu bringen.

Jedes Forum freut sich, wenn Münkler kommt, er spricht mit leiser, suchender Eindringlichkeit, er ist nicht dogmatisch, aber präzise, er hilft bei der Orientierung, und man schätzt seine Mischung aus republikanischer Freundlichkeit und gnadenloser thukydideischer Illusionslosigkeit. Schon in seiner hessischen Jugend legte er dafür die Grundlagen, mit einer Mitgliedschaft bei den Jusos und einer altsprachlichen Gymnasialbildung. Von seiner gefeierten Frankfurter Machiavelli-Dissertation aus entfaltete sich sein langjähriges Wirken als Politikwissenschaftler im Herzen der Berliner Republik. Einflussreich sind Münklers Bücher wie "Die neuen Kriege" (2002) oder "Imperien" (2005), und in allen Konflikten, die ihm an der Universität auch persönlich zugesetzt haben, wahrte er stets, so der Titel eines weiteren Buches, "Mitte und Maß".

Herfried Münkler

Fand im Lockdown endlich mal "große Ruhe" zum Schreiben, sagt er: Herfried Münkler.

(Foto: Soeren Stache/picture alliance/dpa)

Wie um seine geistige Offenheit und Neugier erneut zu demonstrieren, bringt Herfried Münkler pünktlich zum Geburtstag eine stoffreiche Monografie über drei sehr unterschiedliche Figuren des 19. Jahrhunderts heraus: Karl Marx, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche. Drei Deutsche, die in der ganzen Welt Wirkung gezeigt haben, und zwar - eher schlagwortartig, wie Münkler in der Einleitung zugesteht - so: der eine als umwälzender Analytiker des Kapitalismus, der andere als Retter des Mythos für die Moderne und Erfinder des kunstreligiösen Gesamtkunstwerks, der dritte als Künder einer vor- oder postchristlichen, weltbejahenden "Vorstellung von individueller Freiheit".

Zu diesem eher vorsichtigen, andeutenden Umgang mit den großen Folgen des Werks der drei Männer lässt sich eine passende Warnung von Karl Löwith anführen, der in seinem dasselbe Terrain beschreitenden Buch "Von Hegel zu Nietzsche" (1939) von "der geschichtlichen Einsicht" sprach, "dass die ,Wegbereiter' von jeher andern Wege bereiteten, die sie selber nicht gingen".

Warum denn diese drei zusammen?, will man fragen

Wenn Münklers Buch also zunächst vor allem eine historische Konstellation untersucht und wenn man dann am besten gleich zu Anfang fragt: Warum denn diese drei zusammen?, so lautet die Antwort dann am besten auch gleich ehrlicherweise: Die eigentliche Zusammenschau erbringt in diesem Buch leider nicht sehr viel. Außer, dass man durch die Kontraste eher die Unterschiede zwischen den dreien klarer vor Augen hat, gerade auch da, wo sich ihre Motive berühren.

Wenn Münkler den Sinn der Gesamtbetrachtung des Dreigestirns Marx, Wagner, Nietzsche aus heutiger Perspektive benennen soll, finden sich denn auch nur Leerformeln: "Einer Welt im Umbruch entstammend, könnten sie zu Begleitern des 21. Jahrhunderts werden, ebenfalls einer Welt im Umbruch, wobei diese Begleitung eher eine der kritischen Infragestellung als eine selbstsicheren Wegweisung ist." Oder: "In ihrer Zeit wie unserer Gegenwart stehen sie für unterschiedliche Blickweisen auf Gesellschaft und Kultur." Nun denn, das ist kein großer Ertrag, und er fiele wohl auch nicht viel anders aus, wenn der Autor am Anfang des Jahrhunderts noch Hegel oder am Ende noch Sigmund Freud mit hineingenommen hätte.

Aber das ist gar nicht so schlimm, denn im Einzelnen erfährt man in diesem Buch sehr viel Interessantes. Herfried Münkler, selber gewiss kein Marxist im ideologischen Sinne, war seit 1993 mit der Fortführung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften betraut. In diese Zeit, besonders nach dem Finanzcrash 2007/2008, fällt das Wieder-Ernstnehmen von Marx als Beschreiber der Krisenanfälligkeit des Kapitalismus, bei allen Fehlern seiner Prophetie. Zugleich hat Münkler zusammen mit Musikwissenschaftlern Seminare über Richard Wagner an der Humboldt-Universität veranstaltet. Aus diesem Material ergeben sich die ergiebigsten Vergleiche in diesem Buch.

Bei Wagner entdeckt Münkler "klasseninterne Auseinandersetzungen"

So ist es faszinierend zuzuschauen, wie Münkler nicht nur Wagners Schriften, sondern auch dessen Musikdramen als politischer Denker durchforstet und etwa im mythischen Kosmos der Nibelungen "klasseninterne Auseinandersetzungen" entdeckt - ein schönes Changieren zwischen Opernführer und politischer Ideengeschichte. Zum Beispiel stellt Münkler Wagners "Ring" und Marx so gegenüber: "Wagners Bourgeoisie ist zu konservativ, um unter den von ihr geschaffenen Verhältnissen politisch überleben zu können; Marx' Bourgeoisie hingegen ist zu revolutionär, um nicht der von ihr selbst angestoßenen Entwicklung zum Opfer zu fallen."

Beide, Marx und Wagner, erlebten das Scheitern der deutschen Revolution von 1848/49 als prägende Erfahrung ihrer Generation. (Für den jüngeren Nietzsche waren es die Einigungskriege und die Reichsgründung 1871, die er erst patriotisch begrüßte, aber sehr bald als Bedrohung der Kultur ablehnte.) Dieses Trauma - Wagner war selbst in Dresden gegen die Fürstenherrschaft auf die Barrikaden gegangen - verarbeiteten beide aber sehr unterschiedlich: "Wagner hat auf den Umsturz der Gesellschaft verzichtet", schreibt Münkler, "um an der Revolutionierung der Kunst festhalten zu können; Marx dagegen hat an der sozialen Revolution festgehalten, indem er den Umsturz in kleine Portionen zerlegte und in den sozioökonomischen Prozess einschrieb."

Hatty Blast Furnace

Auf die Industrialisierung - hier eine Fabrik in Sheffield - blickten Wagner und der zuletzt in England lebende Marx sehr unterschiedlich.

(Foto: Hulton Archive/Getty Images)

Richard Wagner lehnte die Industrialisierung und das (von ihm antisemitisch diffamierte) Geldwesen des Kapitalismus ab, Marx sah beides als unvermeidlichen Fortschritt im Antagonismus zum Proletariat. Beide hatten immer wieder Geldsorgen (während Nietzsche spartanisch frühpensioniert lebte). Beide glaubten, dass die Gesellschaftsordnung ihrer Zeit zu überwinden sei, und sahen "die Geschichte" als Macht an - aber Wagner erhoffte sich die Erneuerung durch Zerstörung als Restauration eines idealisierten Mittelalters, Marx glaubte demgegenüber an die Zukunft. Nicht an Erlösung, sondern Befreiung.

Diese profilschärfenden Vergleiche sind das Privileg des nachgeborenen Ideenhistorikers, hingegen haben die Zeitgenossen Karl Marx und Richard Wagner einander kaum wahrgenommen. Nur Marx war einmal genervt, dass wegen der ersten Bayreuther Festspiele 1876 die Hotels in Nürnberg ausgebucht waren, als er auf der Durchreise zur Kur in Karlsbad war: Man sagte ihm in Nürnberg, dass "die Stadt überschwemmt sei, teils infolge eines Müller- und Bäckerkongresses, teils durch Leute aus allen Weltteilen, die sich von dort zu dem Bayreuther Narrenfest des Staatsmusikanten Wagner begeben wollten". Am Kurort angekommen, schrieb Marx noch einmal an Friedrich Engels: "Allüberall wird man mit der Frage gequält: Was denken Sie von Wagner?" Antworten von Marx selbst auf diese Frage sind nicht überliefert, und von Wagner gibt es keinerlei Äußerung über Marx.

Im 20. Jahrhundert wurde das Erbe von Marx und Nietzsche auf unterschiedliche Weise missbraucht

Ähnlich verhält es sich mit Marx und Nietzsche: Die geistig-politischen Antipoden - der eine Visionär der Massengesellschaft, der andere Verächter derselben - haben nicht voneinander Notiz genommen, bis Marx 1883 in London starb und Nietzsche 1889 in der Umnachtung landete. Nur indirekt findet man bei Nietzsche (in den "Unzeitgemäßen Betrachtungen" von 1874) Kritik am hegelianischen Denken - dieses führe zum "Götzendienste des Thatsächlichen". Im 20. Jahrhundert wurde das Erbe dieser beiden bekanntlich auf unterschiedliche Weise angetreten und missbraucht, mit den Fluchtpunkten Stalinismus und Nationalsozialismus.

Bleibt das Paar Wagner/Nietzsche - die geläufige Geschichte der beiden, den "Fall Wagner", erzählt Münkler auch noch einmal mit. Nietzsche, noch Philologieprofessor und beginnender Philosoph, war anfangs glühender Anhänger Wagners, er hoffte auf "das allmähliche Erwachen des dionysischen Geistes in unserer gegenwärtigen Welt". Ein ganz neuer Kult der Kunst sollte Deutschland zum neuen Griechenland machen, eine Kunst, die getrieben sei von "den Müttern des Seins, deren Namen lauten: Wahn, Wille, Wehe". Das schrieb Nietzsche 1872 in der "Geburt der Tragödie", doch schon bald nach den ersten Festspielen in Bayreuth begann die Entfremdung zwischen beiden, die Nietzsche auf immer einsamere Höhen führte: "Denn ich hatte Niemanden gehabt als Richard Wagner."

Scharfsinnig und kenntnisreich ist Herfried Münkler auch wieder in diesem Buch. Obwohl er im Lockdown endlich mal "große Ruhe" zum Schreiben hatte, wie er sagt, bleibt beim Lesen immer wieder ein wenig unklar, was Exkurs und was Haupterzählung ist. Einen klugen Vortrag oder Aufsatz zum Thema "Möglichkeiten und Grenzen vergleichender Doxographie und Biographik" könnte man sich von Herfried Münkler deshalb nun ebenfalls vorstellen. Wir werden ihm weiter zuhören.

Ideengeschichte: Herfried Münkler: Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch. Rowohlt Berlin, Berlin 2021. 720 Seiten, 34 Euro.

Herfried Münkler: Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch. Rowohlt Berlin, Berlin 2021. 720 Seiten, 34 Euro.

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