Eine der Kernfragen, um die sich die raumgreifenden Installationen der Berliner Künstlerin Henrike Naumann drehen, lautet: "Kann man durch Möbel über Politik und Geschichte sprechen?" Welche Aktualität diese Frage in diesem Frühjahr durch die gespenstischen politischen Entwicklungen für sie bekommen würde, hätte sie nie gedacht. Denn Naumanns Möbel-Video-Installation "2000" war im Pinchuk Art Centre in Kiew ausgestellt, als am 24. Februar russische Panzer gegen die ukrainische Hauptstadt vorrückten. Plötzlich, standen schwierige Fragen im Raum: Macht es Sinn, Kunst zu evakuieren? Ist angesichts der Zerstörungen, der Not und des Leids, die die völkerrechtswidrige russische Invasion seither täglich in der Ukraine anrichtet, der Aufwand vertretbar, der erforderlich ist, um ein zeitgenössisches Kunstwerk nach Deutschland zurückzutransportieren? Die mutigen Museumsleute in Kiew sorgten trotz aller Widrigkeiten für den Rücktransport.
Ende Juni sind die Teile der Installation in Berlin eingetroffen. Anfang Juli haben Naumann und ihr Team die Kisten aus Kiew im Berliner Gropius-Bau ausgepackt, wo das Publikum die Installation nun am ersten Augustwochenende besuchen kann. Inmitten der Kunst wird nun im Rahmen des zweitägigen Diskursprogramms "Back Home" über die Rolle und den Sinn kultureller und künstlerischer Arbeit in Kriegszeiten diskutiert. Zu diesem Zweck hat Naumann ihre Installation neu arrangiert. Die großen Teile sind von der Mitte an die Wand gerückt, um Platz für das Gespräch zu schaffen. Die zur Installation gehörigen Videos werden nicht gezeigt. Zum Auftakt am Donnerstag wird die ukrainische Kunsthistorikerin und Kuratorin Valeria Schiller, die seit März in Berlin lebt, einen Vortrag über Kulturarbeit unter Kriegsbedingungen in der Ukraine halten. Schiller lehrt Kunstgeschichte an der Kyiv Academy of Media Arts und gehört zum kuratorischen Team des Babyn Yar Holocaust Memorial Centre, das Anfang März von russischen Raketen getroffen wurde.
Wenn sie auf Ebay nach "schön" sucht, findet sie seltsame und sehr hässliche Dinge
Möbel sind für Henrike Naumann mehr als Einrichtungsgegenstände. Es sind künstlerische Medien. Aus Schrankwänden, Couchtischen, Stühlen, Hockern und Designgegenständen baut die Künstlerin seit zehn Jahren raumgreifende Installationen, die international Beachtung finden. Ihr Material findet sie im Internet. Das Suchen, Finden und Abholen ist Teil ihrer Kunst, bei der Suchbegriffe eine wichtige Rolle spielen. Mit dem Adjektiv "schön" etwa finde man auf Ebay oft seltsame, mitunter auch sehr hässliche Dinge, sagt sie. Die Künstlerin hat einen Spürsinn für das Unheimliche in der Form und den Räumen. Sie interessiert sich für die Ideologien und Politiken, die im Design schlummern. Naumann bringt in ihrer Kunst eigentümliche Objekte zusammen, die Menschen online loswerden wollen, und Dinge, an denen sie besonders hängen. Dieser latente emotionale Gehalt transportiert sich aus der privaten Sphäre in ihre Ausstellungen hinein. Er sorgt für eine spezifische Form von Befremdung, die bei Naumanns Kunst immer mitschwingt. So gelingt es der Künstlerin, für die von ihr bevorzugten "schwierigen" Themen wie den NSU-Komplex oder die rechtsextreme Prepper-Szene überraschende künstlerische Arrangements zu finden.
Mittlerweile zählt die 1984 in Zwickau geborene Künstlerin, die in den Nullerjahren an der Konrad-Wolf-Filmuniversität in Potsdam-Babelsberg und der Dresdener Kunstakademie studierte, zu den einflussreichen und gefeierten Künstlerinnen ihrer Generation. Für die Installation "Das Reich" stellte Naumann 2017 im Berliner Kronprinzenpalais Schränke in Stonehenge-Formation auf, als Bild für die gefährlichen Mythenerzählungen der Reichsbürgerszene, die sich um den 1990 an diesem Ort ausgehandelten deutsch-deutschen Einigungsvertrag ranken.
Im Münchner Haus der Kunst holte sie 2019 für die Installation "Ruinenwert" die Möbel der Erstausstattung aus dem Keller des Museums, das ursprünglich als NS-Paradebau errichtet und 1937 als "Haus der Deutschen Kunst" eröffnet wurde. "Eurotique" wiederum hieß der Titel einer 2018 für die Riga Biennale entwickelten Installation, die sich um den "Euroremont"-Begriff drehte. Damit wurden ab den frühen Neunzigern in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion Wohnungsrenovierungen nach europäischen Standards bezeichnet: abgehängte Decken mit eingebauten Halogenleuchten, Laminatböden und eingezogene Gipskartonwände. Kürzlich wurde die Installation für die Sammlung des Warschauer Museums für Moderne Kunst erworben. Die nun aus Kiew zurückgekehrte Installation "2000" wiederum spürt der Rolle postmoderner Ästhetik und den gesellschaftlichen Verwerfungen in den Neunzigern, dem ersten Jahrzehnt der Deutschen Einheit nach.
Ein haitianisches Kollektiv hat sie auf die Documenta eingeladen
Seit dem Beginn der Corona-Pandemie arbeitet Naumann in einem Krisenmodus, den sie als neue Realität der Produktion akzeptierte. Bei einem Besuch in ihrem Berliner Atelier sagt sie: "Es bringt nichts, zuhause abzuhängen und zu warten, bis alles wieder wird wie vorher." Das war noch vor dem russischen Angriff auf die Ukraine und auch vor Beginn der desaströsen Documenta, zu der sie vom haitianischen Kollektiv Atis Rezistans - Ghetto Biennale zur Teilnahme eingeladen wurde. Gemeinsam mit dem Künstlerkollegen Bastian Hagedorn lieferte sie eine Trance-Orgel, die in der Kirche St. Kunigundis in Kassel-Bettenhausen ausgestellt ist. Doch von der in Kassel gezeigten Kunst spricht niemand mehr, seit auf der Schau immer wieder neue antisemitische Darstellungen entdeckt werden. Wenn sie über das Documenta-Debakel spricht, klingt sie so ratlos wie viele in der Kunstszene angesichts der autodestruktiven Energien, die in Kassel entfesselt wurden.
Vor ein paar Tagen ist die Künstlerin nach New York aufgebrochen, um dort ihre erste große Einzelausstellung in den USA vorzubereiten. Ende September eröffnet im Sculpture Center in Queens ihre Ausstellung mit dem mehrdeutigen Titel "Re-Education". Im Zuge jener von den Alliierten forcierten antifaschistischen Umschulung nach dem Krieg sollten die Deutschen die Demokratie neu erlernen. Um nach dem Fall der Mauer im vereinten Deutschland zurechtzukommen, durchliefen die Ostdeutschen in den frühen Neunzigern einen Crashkurs, der sich ebenfalls als eine Form von "Re-Education" in Eigenregie verstehen lässt. Im Rahmen der Ausstellung wird sich Naumann auch mit dem Hufeisen beschäftigen, dessen Form als Synonym für eine weit verbreitete Extremismustheorie herhalten muss. Diese behauptet, Rechts- und Linksextremismus würden sich um eine imaginäre, moderate gesellschaftliche Mitte herum annähern. Das Problem aber ist: mithilfe der Hufeisentheorie wird rechte Gewalt systematisch verharmlost. Was zurück nach Berlin und zur bevorstehenden feierlichen Einweihung des sogenannten Freiheits- und Einheitsdenkmals in Berlin-Mitte führt. Denn das Denkmal am Schlossplatz ähnelt eben nicht einer Wippe. Naumann nennt es ein "gigantisches Hufeisen".