Jugend in Ostdeutschland:Jahre der Sprachlosigkeit

Jugend in Ostdeutschland: Kleiner T-Shirt-Gruß an die "Böhsen Onkelz" - sie sind in beiden Büchern oft zu hören, Daniel Schulz hat sogar eine Zeile der Band für den Titel seines Buches entliehen.

Kleiner T-Shirt-Gruß an die "Böhsen Onkelz" - sie sind in beiden Büchern oft zu hören, Daniel Schulz hat sogar eine Zeile der Band für den Titel seines Buches entliehen.

(Foto: imago images/IPON)

Der 1979 geborene Journalist Daniel Schulz und der 1988 geborene Rapper Hendrik Bolz haben Bücher über ihre Jugend im Osten geschrieben. Braucht es solche Zeugnisse noch? Unbedingt.

Von Cornelius Pollmer

Wir sind hier zwar nicht im Deutsch-Abitur, aber kann ja trotzdem nicht schaden, sich lieber langsam vorzutasten in der Betrachtung dieser beiden Bücher. Es liegen vor für eine kleine Komparatistik: "Wir waren wie Brüder" von Daniel Schulz, 1979 geboren, in Brandenburg aufgewachsen, heute Journalist bei der taz. Und "Nullerjahre" von Hendrik Bolz, 1988 geboren, in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen, heute Rapper (siehe Interview).

Beide Autoren sind männlich, beide kommen aus dem provinziellen Osten, beide schreiben auch darüber, welche Erfahrungen sie und ihr Umfeld mit Gewalt und Drogen gemacht haben. Andererseits sind die Autoren aber fast zehn Jahre auseinander. Wie zeigt sich das alles in ihren Büchern, in Gemeinsamkeiten und Unterschieden?

Im Buch von Schulz läuft noch "Miami Vice", in dem von Bolz dann "CSI:Miami". Schulz verweist auf den Hungerstreik der Kalikumpel in Bischofferode (1993), Bolz geht auf Schröder und die Hartz-Gesetze ein. Bei Schulz wird in die Runde gefragt, "hat einer von euch ein Handy?". Bei Bolz schreibt der Erzähler viele SMS und nicht mal mehr solche, in denen wegen hoher Netzgebühren mit "4u" oder "gn8" Platz geschunden werden müsste.

Soweit zum Spielerischen der kontemporären Details. Mulmig wird einem ja erst bei den Gemeinsamkeiten, vor allem dann natürlich, wenn man selbst eine Jugend in Ostdeutschland irgendwie über die Bühne des Lebens gebracht hat. Eine Jugend mit stumpfem Vandalismus, stumpfen rassistischen Witzen, auch mit stumpfen Erwachsenen, die wie unterlassene Hilfeleistungen auf zwei Beinen selbst dann am Rand stehen bleiben, wenn sich vor ihren Augen die Jugend des Landes gegenseitig die Köpfe spaltet.

Bei Schulz riecht das neue Bushäuschen bald nach Pisse, Bolz notiert eine ganze Seite lang, wie Jugendliche "so konsequent wie unbeholfen" jeden fertiggestellten Fußball- oder Spielplatz sofort beschmieren, zerdonnern, abfackeln - denn: "Hier sollte es nichts Schönes geben." Bei Schulz: rassistischer Schulklohumor. Bei Bolz: rassistische Türkensprüche. Bei beiden: Judenwitze. Bei Schulz: Eltern, die noch ganz normal einfach gar nichts mitkriegen. Bei Bolz: Eltern, die teils mit Höchstgeschwindigkeit nach unten rauschen, und die beklaut werden zum Beispiel von ihren Kindern, die ja nicht zufällig in derselben Richtung unterwegs sind.

Jugend in Ostdeutschland: Daniel Schulz: Wir waren wie Brüder. Roman. Hanser Berlin, Berlin 2022. 288 Seiten, 23 Euro.

Daniel Schulz: Wir waren wie Brüder. Roman. Hanser Berlin, Berlin 2022. 288 Seiten, 23 Euro.

Nun gibt es - nach vielen Jahren der Sprachlosigkeit - längst eine ganze Reihe von Büchern, die vom Nachwendeosten erzählen und und von der sich dort vielerorts bis heute verlängernden Gewalt. In interessierten, weil betroffenen Kreisen lässt sich sogar eine gewisse Ermüdung vernehmen, und der Verdacht des Trittbrettfahrertums ist erst mal auszuräumen, wenn jetzt mit den Büchern von Daniel Schulz und Hendrik Bolz weitere Titel auf den Markt kommen. Und doch sind beide ein Gewinn, in sehr unterschiedlicher Weise.

Das Buch von Daniel Schulz zu lesen ist zunächst in vermeidbarer Weise anstrengend. Die karge Sprache passt zwar zur anfänglichen Banalität der Handlung in der ihrerseits kargen Landschaft Brandenburgs. Langweilig kann man das trotzdem finden. Noch anstrengender aber sind die vielen sonderbaren Sprachbilder, die der Autor seinen Lesern regelrecht aufzwingt. Von einer Referendarin heißt es, sie habe "schwarze glänzende Haare wie eine Vollmondnacht, .... und eine Haut so weiß wie ein Liter H-Milch." Ein unordentlich frisierter Typ sieht angeblich aus, "als hätte sich ein tollwütiges gelbes Eichhörnchen auf seinem Kopf festgebissen".

Da muss man leider durch. Aber das gelingt irgendwann besser, weil Schulz eine wichtige Entscheidung richtig fällt. Sein Protagonist ist ein schon als Kind nostalgischer Sonderling, der ein bisschen arg nach Christenlehre riecht. Er trägt schwierige Kleidung über einem seinerseits schwierigen Körperbau, der seinem Inhaber den Spitznamen "Entenarsch" einbringt. Der Held ist schwach und immer mal wieder orientierungslos, er ist unsicher und zornig und er ist schamerfüllt nicht nur, aber eben besonders im Umgang mit der von ihm begehrten Mariam. Kurzum: Er ist all das, was die allermeisten heranwachsenden Jungs nun mal sind.

Schulz erzählt von diesem Protagonisten aufrichtig und offen. Als Leser ist man dabei, als es das erste Mal ordentlich auf die Mappe gibt, aber man ist auch dabei, als - endlich! - der erste umständliche Kuss mit Mariam fällt. In diesem Kuss zeigt sich nicht zuletzt die Kraft des Gewöhnlichen, die im ungewöhnlichen Umfeld des Erzählers etwas Rettendes hat. Einige von dessen Freunden mögen wegrutschen nach rechts außen. Dass aber der innere Kompass des Erzählers funktionstüchtig sein und ihm schon noch einen ordentlichen Routenvorschlag unterbreiten würde, daran besteht nie Zweifel.

Bolz' Text ist bis in die letzten Silben genau gesetzt, er hat einen sehr eigenen Rhythmus

"Roman" steht auf dem Schutzumschlag des Memoirs von Schulz, auf dem von Bolz findet sich dieses Wort nicht. Ob das einer anschlussfähigen Logik folgt, darüber ließe sich streiten. Denn im Vergleich ist die Autofiktion von Bolz mindestens genauso ein "Roman" wie die von Schulz.

Bei Schulz bleibt fast alle Zeit zäh. Bei Hendrik Bolz nimmt man von der ersten Zeile an Platz auf der Rückbank in einem Fluchtwagen Richtung Vergangenheit. Es geht, wie gesagt, auch bei Bolz um Drogen, Gewalt, um Eltern, die ihren Kindern keine Orientierung geben können, weil sie selbst schon nicht wissen, wo es langgeht. Nur ist der Beat dieses Buches ein völlig anderer, und er ist in dieser ständigen Beschleunigung, dieser ahnungslosen Eile eine kleine Sensation. Dieser Text ist bis in die letzten Silben genau gesetzt, er hat einen sehr eigenen Rhythmus und einen präzisen Punch über die volle Distanz von mehr als 300 Seiten. Formal: so und so gut lange nicht gelesen.

Jugend in Ostdeutschland: Hendrik Bolz: Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 336 Seiten, 20 Euro.

Hendrik Bolz: Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 336 Seiten, 20 Euro.

Auch hier genügt die Form dem Inhalt, dieser Inhalt aber entwickelt eine noch einmal größere Wucht durch seine schiere Gegenwart. Das Buch von Daniel Schulz lässt sich aus scheinbar sicherer Entfernung lesen und als Geschichtsschreibung. Das ist zwar trügerisch, aber nimmt einem wenigstens nicht den Atem. Über das Buch von Bolz hingegen sagt der 32-jährige Musiker Felix Kummer aus Chemnitz im Begleittext: "Zum ersten Mal lese ich ein Buch über ein Früher, das auch mein Früher war. Bisschen traurig und schön, und gruselig auch."

In der medialen Kollektivschmähung fühlt sich der ostdeutsche Erzähler "plötzlich mitgemeint"

Vieles von dem Gruseligen, das im Osten war, ist noch immer - das ist der eigentliche Kinnhaken von Hendrik Bolz' "Nullerjahre". Anders als das Buch von Schulz ist jenes von Bolz in sehr expliziter Weise schonungslos und wie bereinigt von falschen Hoffnungen. Davon so deutlich zu lesen hat etwas Befreiendes, auch wenn das paradox klingen mag. Wie der Autor selbst haben viele in Gesamtdeutschland vermeintlich längst assimilierte junge Ostdeutsche in den Jahren von 2015 an gemerkt, dass es in Wahrheit noch ganz viel zu bearbeiten gilt. In der wenigstens medial kollektiven Schmähung des Ostens in dieser Zeit im Großkontext Pegida et al. fühlte Bolz/der Erzähler sich "plötzlich mitgemeint", "gekränkt und gleichzeitig beschämt".

So schildert es Bolz in einem ungebändigten Schwall gleich zu Beginn, man merkt: Es muss alles erst mal raus, bevor es der Reihe nach dann von vorne richtig losgehen kann. Und als es losgeht, läuft also in dreifacher Geschwindigkeit ein Heimvideo der Jugend mit gelegentlichen Gegenschnitten des realpolitischen Schubskreises, in dem sich der Osten bald wiederfand - ABM, Hartz IV, brain drain, und so immer weiter.

Der Held von Hendrik Bolz ist kaputter, aber auch cooler und smarter als der von Schulz. Bei ihm ist alles noch ein bisschen heftiger, ein bisschen geiler, ein bisschen endgültiger. Es geht dabei längst nicht mehr ums Schocken, nur noch und immer neu ums Begreifen, Bewältigen, schließlich darum, mal eine Art Waffenruhe mit der eigenen Biografie zu verhandeln - und sie dann, wenn die Kraft mal wieder reicht, erneut aufzukündigen. So wird es weitergehen. Irgendwo da draußen ist bereits ein nächster Hendrik oder gerne auch eine Henrike herangewachsen, mit dessen oder deren gleichsam erschütterndem Debüt in etwa zehn Jahren zu rechnen sein wird.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusRapper Hendrik Bolz
:"Es ist eine orgasmische Erfahrung, Gewalt auszuüben"

Nazi-Posen auf dem Plattenbau-Spielplatz: Ein Gespräch mit Hendrik Bolz vom Rap-Duo "Zugezogen Maskulin" über seine Jugend in der ostdeutschen Nachwende-Provinz und seinen Rap-Track in Buchform.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: