Süddeutsche Zeitung

Russland:Der letzte Dissident

Im Ausland geehrt, zu Hause gehasst: Zum Tod von Sergej Kowaljow, dessen Einsatz für Gerechtigkeit ihm Lagerhaft und einen Sitz in der Duma einbrachte.

Von Sonja Zekri

Als Wissenschaftler interessierte er sich für Zellforschung, mehr als 60 Arbeiten schrieb Sergej Kowaljow als promovierter Biologe an der Moskauer Universität. Die Zelle, eine winzige Einheit, mutationsanfällig und leicht zu zerstören, ist doch der Beginn von etwas Großem. Wenn man auf das Leben des russischen Bürgerrechtlers Sergej Kowaljow zurückblickt, dann spielt die Bedeutung des Einzelnen für das große Ganze durchaus eine Rolle. Der Rauswurf aus der Universität und sieben Jahre Lagerhaft in der berüchtigten "Besserungsanstalt" Perm-36 in der Sowjetunion, Ämterverlust und Einschüchterungen im postsowjetischen Russland brachten ihn nicht von der Überzeugung ab, dass der Einzelne, dass er, Sergej Kowaljow, eine Rolle spielen könnte für eine gerechtere, humanere Gesellschaft. Über Jahrzehnte gehörte er, ein Unbeugsamer mit irgendwie immer zu großen Anzügen und Bauklotz-Brille, zum moralischen Personal seines Landes. Im Ausland wurde er dafür vielfach ausgezeichnet, mit dem Sacharow-Preis des Europaparlaments, dem Olof-Palme-Preis, dem Preis der französischen Ehrenlegion. Er wurde aber auch von Herzen gehasst.

Allen ging er auf die Nerven, von Anfang an, den sowjetischen Machthabern, den russischen, und jenem Teil der Gesellschaft, der sich so gern arrangiert hätte mit den Ungeheuerlichkeiten seiner Geschichte und seiner Gegenwart. Geboren wurde Sergej Kowaljow 1930 in der Ukraine, wuchs in Moskau auf, und schloss sich der beginnenden Menschenrechtsbewegung an. Er war einer der Mitbegründer der "Chronik der laufenden Ereignisse", einer Samisdat-Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und Repressionen.

Kowaljow behielt keinen Posten lang, der sich als dekorativ erwies

Nach Haft und Verbannung kehrte er erst 1987 nach Moskau zurück, wo er gemeinsam mit Andrej Sacharow und anderen die Moskauer "Helsinki Gruppe" gründete und später die Menschenrechtsorganisation Memorial. Er war Abgeordneter des sowjetischen Volkskongresses und der Duma, in den offeneren Jelzin-Jahren war er Menschenrechtsbeauftragter. Aber Kowaljow behielt keinen Posten, der sich als dekorativ, als Trophäe für die Machthaber erwies. Als erbitterter Gegner der Tschetschenien-Feldzüge wurde er international bekannt, kritisierte die Zerstörung der russischen Kaukasus-Provinz. Als tschetschenische Kämpfer unter der Führung des Terroristen Schamil Bassajew ein Krankenhaus in der südrussischen Stadt Budjonnowsk überfielen und über 1100 Geiseln nahmen, bot er sich zum Austausch an.

Muss man erwähnen, dass er kein Freund der Politik Wladimir Putins wurde? Damals, in den Jahren als Dissident, sei jeder Regimekritiker als Faschist bezeichnet worden, hat er einmal gesagt. Heute sei es ähnlich. Am Montag ist Sergej Adamowitsch Kowaljow, der letzte sowjetische Dissident, im Alter von 91 Jahren in Moskau gestorben. Die Nachricht von seinem Tod war keine Stunde alt, als kremltreue Trolle das Internet mit Häme fluteten.

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