Süddeutsche Zeitung

"Reisen", ein Migrationsroman von Helon Habila:Geschichten sind ihre Währung

In seinem dokumentarischen Roman "Reisen" sieht der nigerianische Schriftsteller Helon Habila Europa durch die Augen seiner Migranten.

Von Jonathan Fischer

Geschichten von der Flucht nach Europa sind schon viele erzählt worden. Vielleicht zu viele. Was kann man einem Publikum noch sagen, das seine Gefühle gegenüber den Nachrichten von überfüllten und gesunkenen Booten im Mittelmeer im Laufe der Jahre auf Distanz gebracht hat? Der nigerianische Schriftsteller Helon Habila schafft es noch einmal, sich durch die Hornhaut der Gewöhnung zu bohren. Habila lehrt als Professor in den USA, ab 2013 hat er ein Jahr bei einem akademischen Austausch des DAAD in Berlin verbracht. Kurz nach seiner Ankunft starben 366 Menschen, als ein Boot mit Flüchtlingen vor Lampedusa kenterte. Einige, die aus dieser Katastrophe gerettet wurden, traf Habila später in Berlin. Sein Roman "Reisen" speist sich aus Notizen aus dieser Zeit, Zeugnissen von Überlebenden, denen er versprochen hatte, sie zu veröffentlichen.

Über das Dokumentarische reicht dieses Mosaik aus Migranten-Tragödien aber weit hinaus. In lakonischer Sprache setzt es Reste von Erinnerung zusammen, halluzinatorische Puzzlestücke, die stärker wirken als bloße Fakten: "Im Wasser brodelt es", träumt der Erzähler, "Fische. Ein ganzer Schwarm stürzt sich wie wild auf Futter, aber als ich mich weiter vorbeuge, beinahe berührt mein Gesicht das Wasser, sehe ich, es sind keine Fische, sondern Menschen. Menschen, die um sich schlagen, das Gesicht nach oben gewandt, winzige Hände, die sich mir entgegenstrecken."

Gerade durch die Spannung zwischen Bericht und Fiktion, die den Erzähler aus seiner Selbstbeobachtung immer wieder in die dritte Person rutschen lassen, macht der Autor seine Figuren sichtbar. Er gibt ihnen Stimmen und Charaktere. Nur zu Anfang hält er sicheren Abstand: Der Ich-Erzähler, nigerianischer Doktorand, begleitet seine amerikanische Künstlergattin Gina für ein Auslandsjahr nach Berlin. Auch um dort nach Material für seine Doktorarbeit über die Berliner Konferenz von 1884 zu suchen, auf der die Aufteilung Afrikas unter den Kolonialmächten beschlossen wurde, die mit zur Flüchtlingskrise von heute beigetragen hat. Auf seinen Streifzügen durch Berlin fühlt er sich von den Schicksalen der Migranten hier angezogen, von Menschen, die sich an die Wracks ihrer Geschichten klammern.

Da gibt es Manu, einen libyschen Arzt, der hier als Türsteher arbeitet. Er hat seine Frau und sein Kind aus den Augen verloren, als ihr Boot im Mittelmeer versank. Jeden Sonntag sucht er sie am Checkpoint Charlie - so hat er es mit seiner Frau verabredet. Oder Mark: Ein transsexueller Pfarrerssohn, der aus seiner Heimat geflohen ist und im Berliner Künstlermilieu Verbündete findet. Mark zitiert Dambudzo Marechera, Dostojewski, Knut Hamsun - und deklamiert: "Was ist der Sinn von Kunst, wenn nicht Widerstand?" Am Ende wird er vom Dach des Flüchtlingsheims in den Tod springen.

Der Ich-Erzähler weiß um die Privilegien seines akademischen Migrantenlebens im Gegensatz zu ihrem. Zunächst scheint er jederzeit bequem in seine Bohème-Welt, zu seinen Büchern und den Dinners mit Ginas Künstlerkollegen zurückkehren zu können. Er ist ein neugieriger Flaneur, weit entfernt von der Tragödie. Mit der Zeit aber schlüpft er in die Geschichten seiner Gesprächspartner wie in geflickte Mäntel. Am Ende wird er selbst einer von ihnen.

Der 53-jährige Helon Habila hat schon zuvor politische Themen aufgegriffen: "Öl auf Wasser", sein einziges anderes ins Deutsche übersetzte Buch, handelt von einer Geiselnahme im Niger-Delta. "The Chibok Girls", das 2017 auf Englisch erschien, widmet sich den von Boko Haram in Nordnigeria entführten Mädchen. Die Flüchtlingskrise aber führt seine Erzählungen erstmals aus Afrika heraus nach Europa. Und die Spannung zwischen den Kontinenten wird zu einer zwischen den Lebensrealitäten und der Überlebens-Fiktion: "Erfundene Geschichten sind die Währung unter den Heimatlosen, den Entwurzelten", schreibt Habila. "Das Wasser, das sie alle überschritten haben, um hierher zu kommen, hat die Vergangenheit weggespült."

Der Roman setzt sich aus sechs Büchern zusammen, die mit erratischen Einzelgeschichten beginnen, Zufallsbegegnungen und Augenblickswendungen folgen, bis deren lose Enden sich berühren und wieder verfranzen.

Die junge sambische Studentin Portia zum Beispiel hat wie der Erzähler einen Pass. Ihre Familiengeschichte ist bestimmt von ihrem Vater, der als politischer Dichter und "Berufsexilant" in London lebt. In Europa hat man ihn jahrzehntelang als "Gewissen Afrikas" gefeiert, in Sambia dagegen längst vergessen, was ihn bei seiner Rückkehr in tiefe Depression stürzt. Zusammen mit dem Erzähler will Portia aber vor allem das Rätsel um den Tod ihres Bruders lösen. Sie reisen nach Basel, um eine Frau zu befragen, die mit ihm verheiratet war und die ihn auf die Bahngleise gestoßen hat. Es kommt nicht viel dabei heraus. Aber um Ergebnisse geht es in "Reisen" auch nicht in erster Linie. Eher um die migrantischen Zwischenwelten, über die das Paar unterwegs nachdenkt - ihr gemeinsames Tasten nach Zugehörigkeit in der Fremde. Habila betrachtet Europa durch die Augen seiner Migranten, als Wechselbad zwischen Wiederbelebung und existentieller Verlorenheit.

Im letzten Drittel des Buches rutscht der Erzähler selbst in die Rolle des Gestrandeten. Er verliert seine Dokumente, steigt in den falschen Zug, und der Albtraum holt ihn ein. Er landet in einem Auffanglager an der sizilianischen Küste, starrt in stummer Resignation aufs Meer: "Er ist jetzt seit einem Monat hier. Man hat ihn von Lager zu Lager weitergereicht. Er ist sehr krank, und ich fürchte, er macht es nicht mehr lange." Von da an nimmt das Buch eine Wendung zu einer fast märchenhaften Dramaturgie. Es ist voller Wärme, Hoffnung und Solidaritätsgesten unter Geflüchteten. Es sieht sie so nah, dass es wehtut.

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